Montag, 1. Februar 2010

Getrennte Welten


Wir sind gespalten, schwanken hin und her, manchmal zweimal täglich. Indien zehrt an den Nerven. Vielleicht ist es auch das 24-Stunden-pro-Tag-Zusammensein. Die fehlende individuelle Freiheit. Das immer aufeinander Rücksicht nehmen und Kompromisse suchen müssen. Und trotzdem verspüren wir eigentlich keine Lust, nach hause zurückzukehren. Ausser Tim, der seine Freunde vermisst und wohl eine Überdosis Mama und Papa abgekriegt hat in den letzten Monaten. Und sich zu fragen beginnt, ob es wohl noch genügend Schnee habe in der Schweiz zum schlitteln und Skifahren. Nur eines ist klar: Wenn es noch weiterginge, würden wir alle gerne in einen anderen Kulturkreis wechseln. Weg von Indien, so sehr wir das Land und seine Menschen auch ins Herz geschlossen haben. Neuseeland wäre nicht schlecht. Berge und Trecking. Und ein Land, wo man nicht gleich von weitem als reicher Tourist in die Augen sticht.  


Doch wir sind in Varkala. Auch gut. Zum Glück aber nicht wirklich in Varkala, sondern ein paar Kilometer weiter nördlich, in Odayam. Unser Guesthouse liegt auf einer kleinen Klippe in einem Palmengarten. Viel Schatten. Hängematten. Ein paar Stühle und Tische vorne an der Klippe, wo der Blick auf den weiten grauen Strand fällt und auf die Gischt der Brecher, die aus dem arabischen Meer herein rollen. Zweifellos ein weiterer Kandidat auf einen Spitzenplatz im Wettbewerb um das schönste Klassenzimmer der Welt. Was bei Tim indessen nicht dazu führt, dass er sich mit mehr Enthusiasmus hinter die Hausaufgaben setzt.


Zu attraktiv sind die Ablenkungen. Kokosnüsse werden geerntet. Im Restaurant nebenan lebt Bolt, ein kleiner weisser Hund, den Tim sogleich ins Herz schliesst. Fischer setzen ihre Boote auf den Strand und ziehen die Netze ein. Tim will unbedingt mit anpacken und erhält als Belohnung einen Kalmar geschenkt, der abends ins Curry wandert. Und dann das klare Wasser und die Wellen. Wir verbringen Stunden mit Surfen. Lassen und von den Brechern und Strudeln auf den harten Sand klatschen. Und dösen in den Tag hinein. Auch das Wetter ist traumhaft. Toll, wenn man weiss, dass der Himmel morgen genau so blau sein wird wie heute.


Noch ist es ruhig und gemütlich in Odayam. Nicht mehr als zehn kleine Pensionen säumen den Strand. Doch in ein paar Jahren wird es hier ähnlich aussehen wie vorne in Varkala, 20 Minuten Fussmarsch entfernt. Auf dem North Cliff ist kein Zentimeter freier Platz mehr. Restaurant neben Bar neben Ayurveda-Klinik. Aufgetakelte Italienierinnen konkurrieren mit halbnackten betrunkenen Russen um die Auszeichnung um den abstossendsten “Homo Turisticus”. Ein Ort zum Sofort-wieder-verlassen.


Der Strand bietet immerhin Anlass zu einigem Amusement. Im nördlichen Teil tummeln sich die ausländischen Besucher. Sie liegen im Sand, wie das Touristen halt so tun. Meditieren. Geben sich dem Yoga hin. Stets beäugt von Gruppen patrouillierender indischer Männer, die ihre Blicke begierig auf das weisse Fleisch richten, das sie so sonst nirgends zu sehen kriegen. Im südlichen Teil knüpfen die Inder ihre Dhotis hoch und lassen die Flügel im Winde spielen. Die Frauen schürzen ihre Saris, waten ein paar Meter in die Gischt und lassen sich die Füsse umspülen, beobachtet von fotografierenden Touristen. Getrennte Welten, die sich nicht durchmischen. Zu fremd sind die Kulturen, die hier aufeinander prallen.


Wir ziehen uns zurück nach Odayam, lassen die Tage verstreichen. Wir besuchen eine Katthakali-Aufführung, das klassische Kerala-Theater. Spazieren stundenlang auf den Klippen, schauen den Fischern zu. Kathrin lässt sich massieren, Tim und ich liegen in der Hängematte und denken mit Schrecken an die Kälte, die uns schon bald wieder umfassen wird. Noch ist es noch nicht soweit. Noch surfen wir täglich in den Wellen. Doch der Countdown läuft.