Montag, 18. Januar 2010

Orgie der Farben


Es ist schön, wieder unterwegs zu sein. Mitten im indischen Alltag, den zu erleben wir ja eigentlich hierhin gekommen sind. Das Reisen in rumpelnden Bussen. Kurve um Kurve. Tal um Tal. Hügel um Hügel. Es ist eng. Beengend zuweilen. Zuerst kalt, oben in den Teeplantagen. Dann drückend heiss, als wir die Ebene erreichen. Man kann sich dagegen wehren, sich aufregen. Oder besser: Man gibt sich dem Unvermeidlichen hin, lässt sich schaukeln, findet sich damit ab. Dann kann auch die mühsamste Busreise zum Genuss werden. Zum Erlebnis mit meditativem Charakter fast. Aber nur fast.


Madurai ist vor allem staubig. Und laut und hektisch. Wie jede indische Stadt halt. Zudem haben die Städte Südindiens - wenigstens die, die wir kennen gelernt haben - im Vergleich zu jenen des Nordens in bezug auf das Stadtbild wenig zu bieten. Das ist mit Madurai nicht anderes. Ausser um den Sri Meenakshi-Tempel. Das Bauwerk selbst ist eine Orgie aus Farben. 14 Gopuras - Tempeltürme - unterschiedlicher Höhe schiessen in den blauen Himmel. Jeder ist übersät mit Stuck-Figuren von Göttern und Dämonen, als würden sie um den knappen Platz am Turm ihre Titanenschlachten kämpfen. Alle zehn Jahren werden die Figuren neu gestrichen - letztmals 2008. Und so leuchten sie in allen Farben einer Palette, die keine Schattierung ausgelassen hat.

Doch das ist nur der Anfang. Der Meenakshi-Tempel ist eine Stadt in der Stadt. Im äussersten Hof haben sich die Schneider nieder-
gelassen. Sie sitzen in langen Reihen hinter ihren fussbetriebenen Maschinen und nähen alles nach Mass zusammen, was man nur will. Spottbillig und innert weniger Stunden. Daneben gibt es Tempelbedarf. Von Kampferlämpchen über Glöckchen bis zu kitschigen Götterstatuen aus farbigem Plastik. Ein Papagei wählt für Tim aus einem Stapel mit Götterbildern seinen Favoriten aus. Es ist Ganesh, der Elefantengott, Sohn von Shiva und Parvati, Gott des Lernens, des Erfolgs, des Reichtums und des Friedens. Kommt uns alles sehr gelegen.


Im Innern des Tempels zieht es Tim denn auch sofort zum Tempelelefanten. Doch Segnungen kosten hier für Ausländer 10 Rupies, für Inder eine Rupie. Wir lassen es bleiben. Das Sanktum der beiden Schreine für Shiva und Meenakshi, eine der Gefährtinnen Shivas, sind für Nicht-Hindus zwar geschlossen. Doch der Tempel, belebt vom Fruchtbarkeitskult um Shiva und Meenekshi, bietet auch sonst genügend Attraktionen. Täglich strömen gegen 15’000 Gläubige in die schummrigen Höfe, in deren Wände immer wieder kleine Schreine eingelassen sind. Priester tragen eine Statue auf einer Sänfte durch die Gänge. Männer entzünden Kampfer in bronzenen Lampenspiralen. Frauen übergiessen eine Ganesh-Statue mit Milch.

Wie Religion und Spiritualität das Leben durchdringen und ganze Städte dominieren, ist für uns ungewohnt und schwer nachzuvollziehen. Aber umso beeindruckender. So ist Madurai jetzt, gegen Mitte Januar, voller schwarzer Männer. Schwarzer Dhotui, schwarzes Hemd, gelber Schal, Holzketten um den Hals. Es sind Ayyappa-Pilger, die zum Sri Ayyapa Waldtempel Sabarimala in den Bergen Keralas ziehen, wo sich zum Sankranti-Festival gegen 1,5 Millionen Männer versammeln. Frauen sind von dieser nach der Hadj nach Mekka zweitgrössten Pilgerfahrt der Welt ausgeschlossen. Und wie es in Männergemeinschaften halt ist: Mann ist ausgelassen, laut und kämpferisch. Vor unserem Hotel sammeln sich die Pilger zur Abfahrt in überfüllten Jeeps. Die enge Gasse wird unpassierbar, von beiden Seiten schieben sich Rikschas, Autos und Lastwagen heran, keiner gibt nach, bis sich ein hupender Knäuel bildet. Ein amüsantes Schauspiel, von oben betrachtet. 


Das Chaos setzt sich auf dem Gemüsemarkt fort. Noch liegt er direkt neben dem Tempel, aber in zwei Monaten soll er wie schon der Blumenmarkt an den Stadtrand verlegt werden, um das Verkehrsaufkommen im Zentrum einzudämmen. Das ist verständlich, denn vor den Markthallen ist kein Durchkommen mehr. Säcke mit Kohl und Ballen von Palmblättern werden abgeladen und in die Hallen getragen. Dort werden die Palmblätter in lärmigen Auktionen versteigert, die damit enden, dass das Bündel mit Gebrüll auf den Boden geworfen wird. Die Palmblätter werden in Tamil Nadu als Teller gebraucht. Zum anrichten der köstlichen “Meals”, der Dosas, Idlis und Vadas.


Wir hätten uns nie träumen lassen, dass wir selbst zum Frühstück saure Reiskuchen mit scharfen Saucen verspeisen würden. Und danach fast süchtig werden. Auch Tim, der zuhause eher zurückhaltend ist mit dem Ausprobieren neuer Gerichte und Geschmäcker. Doch die tamilische Küche ist schlicht lecker, das Essen spottbillig, die Restaurant in ihrer effizienten Einfachheit ein Erlebnis. Tim entwickelt sich zudem zum Experten für Chai, der in Tamil Nadu in einer Schale plus in einem Becher serviert wird. Um ihn zu kühlen, giesst man die süsse braune Köstlichkeit hin und her.


Wir ziehen weiter nach Trichy. Es ist Pongal, das tamilische Neujahr und Erntedankfest. Die Züge sind überfüllt und vollgestopft mit Gepäck, denn zu Pongal besucht man die Familie. Kaut Zuckerrohr, isst süssen Reis und Ingwer, bedankt sich bei den Kühen für die Ernte mit einem Festmahl. Und kauft neue Kleider, damit auch die Händler etwas davon haben. Die Attraktionen Trichys liegen ausserhalb der Stadt. Der Vishnu-Tempel in Srirangam und das Rock Fort. Der Tempel ist weitläufiger, aber weniger prächtig als jener in Madurai. Aber wir haben, wie so oft, Glück. Prozessionen sind im Gange, und die Gruppen bärtiger, halbnackter Priester sind so gesprächig wie exotisch.


Das Rock Fort - oben steht ein Ganesh-Tempel, den Tim unbedingt besuchen wollte - ist am nächsten Tag indessen geschlossen. Wegen der Sonnenfinsternis, die um elf Uhr beginnt, wird uns mitgeteilt. Wir helfen uns mit dem Kauf einer Ganesh-Statue, nehmen eine Rikscha und fahren hinaus zum Planetarium, wo das Ereignis, so denken wir am besten mitzuerleben ist. Es ist keine totale Sonnenfinsternis, aber immerhin eine der seltenen ringförmigen, wo der Mond die Sonnen in einen Bangle verwandelt. Zwei Schweisser-Masken sind vorhanden. Immerhin. Und in langen Reihen steht man an, um einen geschützten Blick auf das Spektakel zu erhaschen.


Wir sind in Indien. Und ordentliche Organisation ist gewiss keine Stärke dieses Volkes. So liegen die versprochenen Schutzbrillen natürlich nicht in genügender Anzahl auf und treffen erst im letzten Moment ein, als sich das Licht bereist zu verdüstern beginnt. Panik bricht aus, die Menge stürzt sich in einem wilden Knäuel auf den armen Kerl, der die Brillen verteilen will. “Queue, please, queue, please”, schreit er in einem fort. Ein frommer  Wunsch, denn wer hat schon mal einen Inder in einer geordneten Schlange  stehen sehen? Eine Schlägerei beginnt, Männer reissen sich die gelben Brillchen und wüsten Beschimpfungen aus den Händen.


Tim versucht’s und wird eingekeilt (wer erkennt ihn auf dem Bild oben?). Taucht ohne Brille aus dem Knäuel auf. Aber immerhin unverletzt. Seltsam: Neben all der Gelassenheit, Ruhe und Spiritualität, die Inder ausstrahlen, blitz plötzlich diese Aggressivität, ja Brutalität auf, im Kampf um Nichtigkeiten. Ein Sitzplatz im Bus. Eine Schutzbrille. Jeder für sich und Gott gegen alle. Weshalb dieser Egoismus, diese Gleichgültigkeit auch gegenüber anderen Menschen, sofern sie einem nicht nahe stehen. Bloss ein Massenphänomen? Oder doch eine indische Spezialität, wie man den Eindruck hat, da solche Ausbrüche zwischenmenschlicher Brutalität in anderen Ländern kaum zu sehen sind. Eine verwirrende Facette im indischen Kaleidoskop jedenfalls.


Die Eklipse ist dagegen fast weniger spannend als das Umfeld. Wir ergattern irgendwie doch noch ein Schutzbrille, schauen zu, wie sich der Mond langsam vor die Sonne schiebt. Das Licht wird düster, diffuse Schatten legen sich übers Land, und man kann plötzlich an der Sonne stehen, ohne Hitze zu spüren. Immerhin. Doch das Licht geht nicht wirklich aus wie bei einer totalen Finsternis, so wie wir unbedarfte Laien uns das vorgestellt hatten.


Indische Achterbahn. Wir hatten die Nase voll von den Idyllen um Kannur und den Touristenfalle Kochi. Wollten wieder eintauchen ins den prallen indischen Alltag. Doch nach einer Woche haben wir schon wieder etwas genug von Lärm und Staub und Hektik. Das Reisen in Indien ist zwar einfach und problemlos, aber trotz allem anstrengend. Vielleicht sind wir auch schon etwas (zu) lange unterwegs. Abnützungserscheinungen. Zu viele, noch nicht wirklich verarbeitete Eindrücke? Wir setzen uns in einen Nachtzug und fahren zurück nach Kerala. Sleeper Class. Etwas laut und eng, aber problemlos. Wir haben nur noch zwei Wochen unserer Reise vor uns. Die Zeit zerrinnt. Und was noch bleibt, wollen wir in Ruhe am Meer und in den Backwaters verbringen.

In Touristenfallen und Teefeldern


Es gibt untrügliche Zeichen dafür, dass man einen Ort so schnell wie möglich verlassen muss. Zum Beispiel, wenn an jeder Ecke schmierige Kaschmiris stehen und so unverschämt lächeln, als würden sie einen alten Freund begrüssen: “Come in, my friend, no money, just looking“. Fort Kochi ist so ein Ort. Leider. Denn die alte Drehscheibe des Gewürzhandels der Malabar-Küste ist eine der ganz wenigen südindischen Städte, die auch architektonisch etwas zu bieten hätten. Portugiesen, Holländer und Briten haben hier ihre Spuren hinterlassen. Doch die prächtigen Kolonial-Villen, Paläste und Lagerhäuser sind heute bloss noch Fassade für die Touristen, die zu hunderten durch die Gassen streifen. Und von den Kaschmiris in die Handicraft Emporien geschleppt werden, wo Statuen, Schals und Schmuck zu lächerlich überhöhten Preisen warten.


Wir hatten uns gefreut auf Kochi. Wieder etwas normales Leben nach der Strand-Idylle. Märkte und enge Strassen zwischen bröselnden, mit Azulejos geschmückten portugiesischen Bogengängen. Doch nachdem wir den grossen Touristenströmen bisher fast überall ausweichen konnten, wirkt Kochi wie ein Schock. Sicher: Man findet auch noch Gassen, in denen nicht mindestens fünf Guesthouses stehen. Und hunderte Schulkinder, die in ihren Uniformen in die katholischen Schulen strömen. Kurze blaue Hosen, weisses Hemd, Kravatte. Als ginge es zur Messe. Im alten Jewish Quarter sind sogar Überbleibsel der Gewürz-Lagerhäuser noch in Betrieb. In groben Jutesäcken wird gehandelt und verladen, was die Gegend reich gemacht hatte. Und die Europäer hierhin lockte: Pfeffer. Cardamom. Reis. Gewürznelken. Sternanis.


Doch auch hier haben die Kaschmiris Einzug gehalten. Und wenn gerade ein Kreuzfahrt-
Schiff angelegt hat, steigen die Preise nochmals an. Wir wohnen in einem wunderbaren Guesthouse. Holländische Kolonialvilla. Es gibt überall Pizza und Spaghetti. Nette Abwechslung. Und Internet-Zugang. Schön. Aber trotzdem beschliessen wir, Kochi nach einem Tag wieder zu verlassen. Zu viel des Guten. Den Sonnenuntergang bei den chinesischen Fischernetzen nehmen wir noch mit. Mit ca. 3267 anderen Touristen. Wohl das meistfotografierte Sujet Keralas. Aber die Fänge sind minim. Und so ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch die Fischer nur noch für die Besucher posieren.


Tim beginnt immer besser zu beobachten. Kerala müsse sehr reich sein, stelle er fest, denn im Vergleich zum Norden Indiens seien die Häuser hier viel grösser und schöner. Tatsächlich schiessen am Stadtrand Ernakulams, der modernen Schwester Kochis, Dutzende Appartment-Häuser aus dem Boden. Und auf der Busfahrt von Kochi in die Berge fahren wir immer wieder an Villen vorbei, die auch in einem amerikanischen Vorort nicht schäbig wirkten. Grosse Auffahrt hinter einem Gittertor, zwei Autos. Terrassen und Balkone. In frischen Pastellfarben gestrichen. McMansions nennt man die Ungetüme in den USA. Nur sind sie hier nicht aus Sperrholz gezimmert, das bei jedem Hurrikan in sich zusammenfällt, sondern aus stabilem Beton.

Das Geld für die Villen stammt aus dem Golf. Hunderttausende Männer aus Kerala arbeiten in Dubai, Qatar, Abu Dhabi. Denn sie weisen gegenüber anderen Indern zwei grosse Vorteile auf. Viele sind Muslime. Und sie haben eine gute Ausbildung, denn Kerala wiest einen Alphabethisierungsgrad von fast 95 Prozent auf. Sie unterhalten mit ihren Geldsendungen ganze Grossfamilien. Und wenn sie nach Jahren harter Arbeit zurück kommen, protzen sie mit dem Bau riesiger Villen. Hohes Bildungsniveau und Ölgeld.  Das dürften die wichtigsten Gründe dafür sein, dass es Kerala ökonomisch sichtbar besser geht als vielen anderen indischen Staaten. Und weniger, wie Nasik im Kannur Beach House zu wissen glaubte, der besondere genetische Mix Keralas, das als Drehscheibe des Gewürzhandels stets “the best and the brightest” aus allen Ecken der Welt angezogen und damit einen Menschenschlag geschaffen habe, der für Innovationen offen sei.


Wie auch immer: Keralas Wirtschaft scheint gut unterwegs tu sein, denn zwischen Ernakulam und dem Beginn der Western Ghats verlässt man kaum je den urbanen Raum. Erst als der Bus keuchend zu steigen beginnt, gewinnt das Grün die Oberhand. Reisfelder vorerst. Bananenplantagen. Dschungel, der immer dichter wird und sich über der Strasse zu schliessen beginnt, als wollten die Lianen die Fahrzeuge greifen. Dann öffnet sich der Blick auf Grasland, das bis hinauf zu schwarzen Felsen reicht. Hier beginnt das Land des Tees. Ein kobaltgrünes Tuch liegt auf den Hügeln, beschattet von Silbereichen, deren Stämme aus den grünen Wellen ragen wie die Masten einer Armada von Segelschiffen.     


Es ist Samstag, man ist der Hitze der Küste in die Berge entflohen. Und so ist Munnar voller Leben. Der Basar brummt. Tee gibt an jeder Ecke. Kaffee auch. Nüsse, Trockenfrüchte und “home made chocolate”. Und eine Unmenge von verschiedenen Gemüsen. Jene aus den Tropen unten. Und jene aus dem Hochland hier. Die Chai-Verkäufer machen gute Geschäfte, die Stimmung ist ausgelassen, auf den Strassen herrscht das übliche Chaos. Am Strassenrand werden Parothas im Akkord gebrutzelt. Wir setzen uns hin, bestellen sechs der duftenden Fladen, nehmen Kichererbsen und Huhn dazu. Das billigste Nachtessen aller Zeiten. Exakt 2 Franken 70 für alle drei. Und eines der besten dazu. Welch eine Erleichterung zur Kunstwelt Kochis, wo arrogante Italiener winzige Portionen Spaghetti zu aufgeblähten Preisen verkaufen.


Salim führt uns durch die Teeplantagen. Acht Stunden soll die Tour dauern. Hinauf auf den Berg ohne Namen, der 2300 Meter über Meer liegt. Immerhin 800 Meter höher als Munnar. Wir sind Himalaya-erfahren und wagen es. Doch schon beim Aufstieg beginnt es zu regnen. Niesel zuerst, dann ein Wolkenbruch. Wir stellen uns unter einen der Felsen, die in den Teefeldern stehen. Und Salim erzählt, was wir schon so oft gehört haben, seit wir die Schweiz verlassen haben. Das sei wirklich sehr unübliches Wetter für diese Jahreszeit, in der es eigentlich absolut trocken und kühl sein müsste. Schon in Kannur und Wayanad war es zu heiss und viel zu feucht. Er könne sich nicht erinnern, dass es jemals Ende Dezember derart stark geregnet habe, hatte uns Kurian gesagt. Und der Mann ist mindestens 50 Jahre alt. Zuvor der kurze “Freak Monsoon” in Nepal. Und dann die Kältewelle am Ende unserer China-Reise. Die Klimaveränderung macht sich überall bemerkbar.


Kathrin und Tim steigen ab ins Dorf. Ich gehe mit Salim und ein paar anderen Wandervögeln weiter bergauf. Und wir werden belohnt. Es klart auf. Ein paar Nebelschwaden kleben noch an den Felsen und hüllen das Grasland unter ihnen in Watte. Doch die Sicht ins Tal und in die Ferne ist frei. Tee, wohin man blickt. Ein Teppich aus grünen Puzzlesteinen, jeder Strauch ein Stein. Mit winzigen Abständen dazwischen, damit sich die Pflückerinnen hindurch zwängen können. Tee ist Big Business hier und sehr profitabel. 180’000 Hektaren sind mit dem Busch bepflanzt, 80 Prozent gehören der Firma Tata, die auch Autos und Lastwagen und auch sonst fast alles produziert. Profitabler ist nur Cardamom, der bringt 1000 Rupies (23 Franken) pro Kilo. Doch er braucht Schatten und kann nur im Wald wachsen. Und dieser wurde grösstenteils abgeholzt, um Teeplantagen anzulegen. Ich lasse eine der kleinen Cardamom-Kapseln im Mund zergehen. Eine Explosion der Geschmäcker, wie starker Chai, der langsam über die Zunge rinnt.


Wir geniessen nochmals den quirligen Bazaar. Gucken in der Kirche vorbei. Sind enttäuscht, weil die Parotha-Bäcker bereits abgezogen sind. Ende des Wochenendes, die indischen Besucher machen sich auf den Weg in die Ebenen. Wir frieren und beschliessen, am nächsten Tag abzureisen. Das war ein Fehler, denn als wir im Bus sitzen und durch die Teefelder schaukeln, wölbst sich strahlende Bläue über uns. Gerne wären wir nochmals in die Höhe gestiegen. Doch was soll’s. Wir fahren auf der anderen Seite der Ghats hinunter in die Ebenen von Tamil Nadu.

Sonntag, 17. Januar 2010

Götter auf Erden - und ein kleines Paradies


Die Männer stehen eng zusammen und schwitzen am ganzen Körper, obschon es erst fünf Uhr morgens ist. Mit kleinen weissen Stöcken aus Tamarindenholz schlagen sie auf die mit Ziegenhaut bespannten Cenda-Trommlen ein, als würde ihr Leben davon abhängen. Seit ein paar Minuten schon haben sie Rhythmus und Lautstärke ihrer Schläge zusehends gesteigert, bis die Ohren zu schmerzen beginnen. Dann ist es soweit: Der Gott ergreift Besitz vom Tänzer, der sich immer schneller im Kreis zu drehen und wild zu schreien beginnt, den Schild in der einen, Pfeil und Bogen in der anderen Hand. Die brennenden Kokosnüsse, die aus seinem Palmgrasrock hervorstehen, malen rote Schlieren in die Nacht, der riesige rote Kopfschmuck schwingt bedenklich hin und her.


Wir sind an einer Theyyam-Zeremonie in der Nähe von Kannur, einer Stadt an der Küste Nordkeralas. Hier hat sich ein archaisches Ritual erhalten, das ursprünglich aus den Bergen um Wayanad stammt, und dessen Ursprünge in vorhinduistische Zeiten zurück reichen. Begleitet von Trompetern und Trommlern, erzählen die Darsteller wilde Geschichten und uralte Mythen, bis sie im Verlaufe der stundenlangen Tänze in Trance geraten, von der Gottheit, die sie darstellen, in Besitz genommen und selbst zur Inkarnation der Gottheit werden. Danach sitzen sie erschöpft auf Stühlen, werden von der Bevölkerung angebetet und erteilen ihr den Segen.


Es gibt 452 Theyyam-Charaktere mit je einer eigenen Geschichte, erklärt uns Kurian, der Besitzer des Costa Malabari Homestays südlich von Kannur. Selbst Christ, ist er einer der besten Theyyam-Kenner der Region uns weiss stets, wo welches Ritual zu sehen ist. Wir gehen dreimal hin, obschon die Zeremonien meist um 4 Uhr morgens beginnen und man vor sechs Uhr dort sein muss, um den Höhepunkt nicht zu verpassen. In einem der Rituale treten vierzehn Götter gleichzeitig auf. Jeder hat einen sieben Meter hohen Kopfschmuck an, und in diesem Aufzug vollführen sie einen wilden Tanz auf Stelzen. Eine andere Zeremonie kulminiert in einem Lauf über glühende Kohlen. Und immer tragen die Tänzer kunstvolle Kostüme aus Stoff, Pappmaché und Glasspiegeln und sind von Kopf bis Fuss geschminkt oder mit Kokosmilch- oder Turmericpaste beschmiert.


Theyyam ist keine Show für Touristen, obschon diese, unabhängig von ihrer Religion,  willkommen sind und freundlich empfangen werden. Theyyam lebt, sagt Kurian, und sei heute populärer als je zuvor. Erstaunlich, wenn man die schnelle ökonomische Modernisierung Indiens in Betracht zieht, die andernorts oft mit einer Säkularisierung der Gesellschaft einherging. Nicht hier. Beim Theyyam mag das mit der sozialen Bedeutung des Rituals zusammen hängen. Denn die Truppen - Darsteller wie Trommler - bestehen ausschliesslich aus Dalits, also aus Kastenlosen, der untersten sozialen Schicht.


Während der Theyyam-Saison im Dezember und Januar werden ausgerechnet die Dalits zu Göttern, die auf die Erde hinuntersteigen und von allen verehrt werden, selbst von den Brahmanen der Priesterkaste. Zudem machen sich viele der Geschichten über die Arroganz der Brahmanen lustig und kritisieren teilweise in deftiger Form die Ungerechtigkeit des Kasten-Systems. Eine Umkehrung der realen sozialen Verhältnisse also, die einmal im Jahr während zwei Monaten erlaubt wird. Dies mag die Popularität des Rituals erklären, denn es dient den Brahmanen wie den Kastenlosen. Letztere als Ventil für die angestaute Wut über die in Kerala immer noch strikten Kastenregeln. Und Ersteren als Vehikel, mit dem sich diese Wut in kontrollierbare und ritualisierte Bahnen lenken lässt. 


Kannur ist ein Geheimtip. Nicht nur wegen des Theyyam. Denn südlich der Stadt reiht sich ein Traumstrand an den anderen. Und im Gegensatz zu Goa und dem Süden Keralas sind sie fast menschenleer. Einige Homestays, ein paar Strandhäuser. Das ist alles. Wir kommen zuerst im Costa Malabari unter, dann im Kannur Beach House, einem Homestay direkt am Strand. Dort leben Rosie und Nazir mit Sohn und Tochter  und bewirten ihre Gäste mit einer derartigen Herzlichkeit, dass wohl niemand, der hier ein paar Tage lebte, nicht länger bleiben möchte als geplant..


Das Essen ist feinste Kerala-Kost. Fisch- und Prawn-Curries, meist auf Kokos-Basis. Reichhaltige Gemüse-
auswahl an chüschtigen Saucen. Scharfe Pickles. Idli und Dosa zum Frühstück. Nur für Tim wird es nach ein paar Tagen schwierig, er sehnt sich nach Western Food - oder zumindest nach der nordindischen Küche, die ihm mehr behagte. Doch das Strandleben entschädigt für alles, und wir gewöhnen uns bald an eine Routine, mit der sich eine Woche bestens leben lässt.


Morgens zum kleinen Strand, einer von Kokospalmen beschatten Bucht. Tim surft in den Wellen. Wir lesen und machen Hausaufgaben. Mittagessen und Siesta. Um vier Uhr zum grossen Strand, einer weiten Sandsichel, die sich kilometerweit bis zu einem Fischerdorf hinzieht. Mehr als vier, fünf Menschen treffen wir kaum am Strand, und trotzdem hat es im Guesthouse interessante Gesprächspartner. Steve, einen anglikanischen Pfarreileiter aus Cape Cod, Arif, einen BBC-Dokumentarfilmer mit indischen Wurzeln, je mit Familie. Das Weiterreisen fällt schwer.


P.S. Ein weiterer Geheimtip: Wer Kannur noch so geniessen will, wie es heute ist, muss sich beeilen. Einige Homestays sind im Bau. Und in zwei Jahren soll es einen Flughafen mit Verbindungen an den Golf geben - und damit nach Europa. Dass die Strände hier schöner und sauberer sind als in Goa, wird sich danach bald herumsprechen.