Samstag, 28. November 2009

Das Gefühl der Freude beim Betrachten eines Fahrrads


Zwei Uhr morgens: Prashant steht da, ganz vorne an der Abschrankung, mit einem Schild mit unserem Namen in der Hand. Ein kleiner gedrungener Mann mit schütterem Haar. Hätte er nicht diesen schmalen, wie mit dem Bleistift gezogenen, spitz zulaufenden Schnauz, man glaubte, Ueli Maurer vor sich zu haben. Das Männchen nimmt sehr resolut unser Gepäck an sich, stapft voraus und lädt es in den winzigen Wagen. Es ist kalt in Delhi, in der Times of India wird stehen, dass die Temperaturen in dieser Nacht erstmals unter 12 Grad gefallen sind. Offenbar will Prashant so schnell wie möglich ins warme Bett, denn er rast durch die Schlaglöcher, als wäre der Teufel hinter im her. Oder Durga, die Rachegöttin. Die Strassen sind voller Laster, trotz der späten Stunde, die sich unberechenbar hin und her bewegen. Und wir brettern zwischen ihnen hindurch, als wäre die Bremse nie erfunden worden. Links. Rechts. Knapp vorbei. Beschleunigen. Wie in einem Computerspiel. Ich klammere mich vorne fest. Kathrin wird immer bleicher, Tim schliesst die Augen. Einfach nicht hinschauen, und irgendwann sind wir da. Das Abholen vom Airport ist inbegriffen, wenn man im “Incredible Guesthouse” wohnt. Aber der schnauzige Maurer will trotzdem Geld sehen, “for my good service”. Ich schiebe ihm müde 100 Rupies in die Hand, dankbar, dass wir heil angekommen sind. “Oh Sir, only small money, one more”. Welcome to India.


Das Guesthouse liegt in Karol Bagh, einem ruhigen Wohnquartier. Gegenüber klafft eine Lücke in den Häuserzeilen, wo ein paar Familien unter Zeltplanen hausen. Morgens um sechs holen sie irgendwo Wasser, machen Feuer, dessen Rauch auf unsere kleine Terrasse steigt, von der wir eine guten Blick auf das Elend haben. Auch mit dem muss man leben lernen in Indien: Die unbeschreibliche Armut, der Schmutz, die krassen Gegensätze zwischen Luxus und dem bodenlosen Nichts. Im Guesthouse lungern ein paar Typen rum, die sich höflich nach Wohlbefinden, Herkunft und vor allem nach weiteren Reiseplänen erkundigen. Immer wieder - und trotz mehrmaliger Beteuerungen, wir seien weder an Taxis noch an Führern noch an der Reservation von Zugtickets noch an einem Ausflug nach Agra interessiert. Und irgendwie schafft es der unglaublich freundliche Samir mit dem Versprechen, in seinem Büro gleich um die Ecke werde er uns einen Stadtplan geben, in ein dubioses Travel Office zu locken. Wir nehmen den Plan dankend entgegen und verabschieden uns dezidiert, als die Sprache auf Ausflüge und Taxis kommt. Der unglaublich freundliche Samir sitzt am Abend wieder im Hotel und ist nicht mehr so unglaublich freundlich.


Die Metro bietet eine probate Alternative zum Chaos auf den Strassen. Voll zwar auch sie, aber schnell und mit Fixpreisen. Wir stürzen uns ins Getümmel des Chandhi Chowks, des Marktes beim Bahnhof Old Delhi, lassen die ersten Eindrücke des indischen Lebens auf uns einwirken. Die schmuddeligen Pakora-Küchen am Strassenrand. Der Ohren betäubende Lärm des Verkehrs. Die rasenden gelb-schwarzen Rikschas. Der Duft nach frischem Brot. Der scharfe Gestank von Urin. Die tausend Farben der Saris. Die Ratten, die durch den Strassengraben huschen. Das Zischen des Öls in den schwarzen Bratpfannen. Die Menschenmasse, die jedes Individuum zur Nichtigkeit macht. Die winzig kleinen Läden, in denen aufgeblasen blickende Männer auf Stoffballen sitzen. Wir lassen uns nieder, bestellen Samosa, nehmen den ersten Pappbecher mit Chai in die Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger am oberen und unteren Rand zu halten, so dass man sich nicht verbrennt, und lassen die süss-bitter-scharfe Köstlichkeit über die Zunge rinnen. Es werden noch Dutzende dieser Becher folgen in den Wochen, die vor uns liegen.

 

Im Red Fort ist World Heritage Week. Gratis-Eintritt. Doch die Müdigkeit holt uns ein, der lange Nachtflug schmerzt in den Knochen. Wir ziehen weiter zur Jama Masjid, der grössten Moschee Indiens, setzen uns hin und geben uns den Farben hin: Roter Sandstein. Stahlblauer Himmel. Rot und gelb leuchtende Saris. Was für ein Kontrast zu China mit seinem Grau und Braun und Schwarz. Am Bahnhof New Delhi wird eine neue Metro-Linie gebaut, bis hinaus zum Flughafen. Denn 2010 finden in Delhi die Commonwealth Games statt. Alle zweifeln, dass der Bau termingerecht vollendet sein wird. Wir auch, denn das Chaos der Baustelle ist grandios. Trotzdem schaffen wir es irgendwie, am Foreign Tourist Office unser Zugsbillet nach Agra zu reservieren. Doch zuerst hatten wir einige Schlepper abzuschütteln, die einem hartnäckig weismachen wollten, das Büro sei umgezogen. In ihr eigenes Travel Office natürlich. Gleich auf der anderen Strassenseite, just come with me. Dann ist unsere Batterie für heute leer.
  
Humayans Tomb gilt als Vorläufer des Taj Mahal. Ein Kuppelbau aus weissem Marmor und rotem Sandstein, in einem weitläufigen ruhigen Park. Und auf dem Weg dorthin beginnen wir auch die Finessen des Rikscha-Fahrens zu verstehen. Der Preis muss nicht nur gut ausgehandelt werden, bevor man abfährt. In Delhi lohnt sich auch die klare Feststellung, dass kein Geld gezahlt wird, falls ein Zwischenstopp bei einem Laden eingeschaltet wird. Als unser Fahrer nach mehreren Versuchen merkt, dass uns damit ernst ist, gibt der Motor seiner Rikscha ganz plötzlich und ganz unerwartet den Geist auf. Wir steigen aus und suchen uns einen kooperativeren Fahrer, der uns in die weitläufige Parkanlage bringt. Eine Idylle im Herzen des Molochs. Grüner Rasen, wärmende Sonne. Imponierende Mogul-Architektur. Tim jagt die Streifenhörnchen, die zu Dutzenden über die weit ausladenden Äste der den Banyan-Bäume wuseln, leichte Beute für Raubvögel, die ihre Kreise in den Himmel schreiben. Grüne Papageien flattern aufgeregt durch die Ruinen. Vor einer halb verfallenen Moschee rollt ein Bub die Gebetsteppiche zusammen und trägt sie fort. Wir sind zufrieden.


Indien ist wie eine Wundertüte: Man weiss, dass man ein Geschenk erhält. Jeden Tag von neuem. Man weiss aber nie, was heute drin ist. Irgend etwas geschieht immer, garantiert. Etwas Schreckliches manchmal: Zwei Männer, die sich mit wüsten Schimpftiraden traktieren. Ein verkrüppelter Bettler, in verdreckten Lumpen, der einem an den Kleidern zupft. Immer wieder. Bis man weich wird vor Scham. Oder etwas Herz Erwärmendes: der Blick aus den tief grünen Augen eines muslimischen Mannes, der dir zum Abschied ein “Gott segne Dich” schenkt. Oder die Fahrradrikscha, beladen mit mindestens 15 Schulmädchen auf dem Weg nach Hause. Weinrote Uniformröcke, weisse Socken, die Haare, pechschwarz und glänzend, zu Zöpfen geflochten. Alle wie geklont. Das sind die Momente, die diese kleinen Schauer des Glücks den Rücken hoch kriechen lassen, bis sie den Kopf erreichen und sich wonnig ausbreiten. Jene Augenblicke des kurzen, aber intensiven Wohlgefühls, des inneren Lachens, wie ich sie nur in Indien zu empfinden vermag: Die Freude, ein simples Fahrrad vorbeiziehen zu sehen.


Wir lassen uns durch das Karol Bagh-Viertel treiben. Eine völlig untouristische Gegend, ein Wohn- und Geschäftsviertel ohne jegliche “Sehenswürdigkeiten” Aber gerade deshalb sehenswert. Delhi ist bedeutend weniger modern als die chinesischen Städte, und das Handwerk und das Kleingewerbe haben sich gehalten, sind noch nicht der Industrie und den Supermärkten und Boutiquen westlichen Stils gewichen. Ein Laden reiht sich an den anderen, einer kleiner als der andere. Sie haben schrullige Namen: “Nikoo Tailors: The Alteration King”. “Aerofrost: The Weather Control Engineers”. Die brauchen wir derzeit nicht, denn es ist mild und wolkenlos. Doch ich benötige dringend die Dienste des “Golden Hair Cutting Saloon”. Millionen Menschen halten sich in Indien mit dieser Art von Kleingewerbe über Wasser. Kaufen, verkaufen, reparieren, frisieren, braten, transportieren, schreinern, schneidern. Irgendetwas tun, um sich die zum Leben notwendigen Rupien zu verdienen.


Der Bahnsteig lässt kaum Raum für sechs weitere Füsse. Überall stehen Menschen und Gepäck. Kisten und Koffer. In Tuch verpackte Ballen. Immerhin: Der Zug nach Agra fährt auf die Minute pünktlich. Wir fahren S2-Klasse, einfache Bänke, non-AC. Aber mitten in den Leuten. Der Zug ist - wie fast immer in Indien - bis auf den letzten Platz besetzt. Acht Frauen aus Rajasthan teilen sich sechs Plätze, Kinder schreien, Telefone klingeln mit lautem Hindi-Pop. Das schöne an Zugreisen: Es gibt keine Essens-Stops wie bei den Bussen, denn Essen und Getränke kommen zu einem: Chai-Verkäufer bahnen sich ihren Weg durch die Gänge. Dann kommen Samosa. Bananen. Gefüllte Parathas. Ein Spielzeugverkäufer versucht sein Glück bei Tim, der nur zu willig wäre, würden die strengen Eltern nicht eingreifen. Und gerade als man glaubte, man sei unten auf der Leiter angekommen, kommt jemand daher, der noch weiter unten steht: ein verdreckter Junge, der Schuhe putzen will. Der blinde Mann schliesslich, der von Abteil zu Abteil schlurft und auf einer kleinen Flöte spielt, in der Hand eine Blechtasse, in die ab und zu eine Münze fällt. Dann spielt er etwas lauter, aber gleich falsch wie zuvor. Man schämt sich über sein eigenes Übermass an vielem, was andere entbehren, über den Zufall, in dieser und nicht in jener Haut geboren zu sein. Spürt Wut über die Ungerechtigkeit. Mitleid. Ohnmacht auch, weil es sich nicht ändern lässt. Dann schweift der Blick hinaus auf das gemächlich vorbei ziehende Land, die grünen Felder, auf denen am frühen Morgen ein ganz klein wenig Nebel liegt. Man schliesst die Augen, lauscht dem Rhythmus der Scheinen, blickt wieder zurück in dieses Abteil voller Leben und Lachen und Leiden. Man versöhnt sich mit der Welt. Und spürt wieder dieses wunderbare Gefühl. Die stille Freude, hier und jetzt zu sein, nur an diesem einen Ort sein zu wollen. Nirgends sonst und in keiner anderen Zeit. Will man es Glück nennen?

Freitag, 20. November 2009

Die Stadt der gnadenlosen Effizienz


Der Abschied von Nadine und Michael, von Roli und Karin und den Jungs fällt uns nicht leicht. Wir haben die Tage in Yangshuo sehr genossen und würden gerne noch bleiben. Doch wir müssen weiter, denn Kathrins Clan wartet in Hongkong auf uns. Wir haben den Sleeper Bus gebucht,  von Yanghsuo direkt an die Grenze nach Shenzhen und weiter bis Kowloon. Der Bus ist fast voll, als wir einsteigen, und bald sausen wir liegend durch die Nacht. Drei Schlafstellen pro Reihe, dazwischen je ein Gang, doppelstöckig, wie in den japanischen Zellenhotels. An gross gewachsene Menschen hat man indessen nicht gedacht, ich die Beine nur mit einigen Verrenkungen in die kleine Lücke unter dem Kopfteil des Vordermannes. Toiletten gibt es keine im Bus, und so empfiehlt es sich, nicht viel zu trinken. Irgendwie erhaschen wir alle ein paar Stunden Schlaf, bis Shenzhen dauert es indessen einiges länger als die versprochenen 10 Stunden. In der Dämmerung zieht eine irgendwie unwirkliche Stadtlandschaft an uns vorbei. Vor 30 Jahren ein Fischerdorf an der Perlfluss-Mündung, heute Zehn-Millionen-Stadt. Chinas erste Special Economic Zone, das Laboratorium des Kapitalismus chinesischer Prägung. Hier kam es erstmals nicht mehr auf die Farbe der Katze an, sondern nur noch um ihre Fähigkeiten, Mäuse zu fangen. So drückte sich der damalige Parteichef Deng Xiaoping aus, der für den Boom verantwortlich ist. Für all die Shopping Plazas, Banken und hypermodernen Glaspaläste, die moderne U-Bahn, die propereren Parks. Sogar den Eiffelturm haben sie nachgebaut in einem Vergnügungspark. Es grenzt an ein Wunder, dass er nicht höher ist als das Original.


Der Fahrer stellt uns an der Grenze ab, drückt uns ein Ticket für den Hongkong-Bus in die Hand. Stempeln. Fieber messen. Und wir sind drüben. Die chinesische Effizienz erfährt in Hongkong nochmals eine Steigerung. Alles klappt wie am Schnürchen. Nirgends liegt ein Papierschnitzel am Boden. Alles ist bestens signalisiert und angeschrieben. Auf chinesisch und englisch. Hallelujah. Wir checken im YMCA ein, direkt neben dem famosen Peninsula, nur zu einem Bruchteil des Preises. Und von unserem Zimmer sieht man direkt auf die Skyline von Hongkong Island. Was für ein Ort für Tim, um die Aufgaben zu machen. Hintendran werfen Neonlichter und Laser eine Show an den Himmel, als wäre jeden Abend Weihnachten. Wir holen Kathrins Mutter und Schwester am Flughafen ab, lassen es uns gut gehen bei einem indischen Diner in den Chunking Mansions, einem abgewrackten Gebäude mit zwielichtigen Hostels und Kneipen, die man nur auf düsteren Hintertreppen erreicht. Umso köstlicher ist das Essen.


Es ist Sonntag, der einzige Tag, an dem die zig-Tausend indonesischen und philippinischen Hausangesellten Hongkongs frei haben. Im heute ruhigen Finanzdistrikt von Hong Kong Island sitzen sie zusammen. Am Boden. Auf Bänken. In Unterführungen. Überall. Sie schwatzen, essen, lackieren sich die Fingernägel, tauschen Neuigkeiten aus. Das einzige Vergnügen in einem harten Leben, das aber immer noch besser zu sein scheint als jenes zuhause. Oder zumindest für die Familien, die in den Genuss des Geldes kommen, das über Western Union und Co. Nach Manila und Jakarta fliesst. Um die südostasiatischen “Amahs” hat sich eine umfangreiche Industrie gebildet. Telefonkarten. Geldüberweisung. Speditionsdienste. Billigkleider. Was nachgefragt wird, wird auch angeboten, wie üblich im Überfluss und mit heftiger Konkurrenz. Und gleich daneben verkauft Armani Sonnebrillen, die so viel kosten wie zwei Monatslöhne einer Haushalthilfe.


No Problem in Hongkong, der Stadt des unablässigen Geschäfte Machens. An keinem anderen Ort der Welt kommen Konsum und Geschäft so schamlos, so brutal aufdringlich, so allumfassend daher. Jeder kleinste Fleck ein Laden. Sich vorzustellen, dass etwas existiert, was es hier nicht zu kaufen gibt, ist absurd. Kein Segment wird ausgelassen, besonders gut vertreten ist die Luxusware. Gucci und Prada und Tiffany und Armani kommen gleich im Dutzend vor. Und selbst Swarovski, diese wohl Unnötigste aller Ladenketten, die jene unsäglich kitschigen Kristall-Dummheiten verscherbelt, floriert in mehreren Kopien. Kommerzielle Hirnwäsche. Ein permanenter Terror-Anschlag auf Sinne und Vernunft der Menschen, als wollte man sie immer weiter treiben, ihnen keine Sekunde Zeit zum nachdenken geben, damit sie nie wissen können, was sie tun. Besonders aggressiv sind die indischen Strassenhändler: “New suit, best tailor, need new shirt, Sir? Copy watch, copy bag, cheap price” - und eigentlich habe ich doch schon längst alles und in mindestens doppelter Menge. Wann ist es soweit, dass einem ein “copy life” angeboten wird? Ab Stange oder massgeschneidert, cheap price.


Wir sind verwirrt und zuerst wie betäubt. Und jeder reagiert auf seine Art. Chrige verfällt zuweilen dem Shopping-Fieber, Annemarie will nur raus aus den Massen, Tim und Kathrin stehen irgendwo dazwischen, ich versuche in die Natur zu gelangen, so oft es  geht. Zu fünft unterwegs zu sein, ist nicht ganz einfach. Und Reibereien bleiben nicht aus beim Versuch, alle Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. Und dies in einer Stadt, die niemanden kalt lässt. Hongkong nervt und fasziniert. Es vibriert und lärmt, strömt eine Energie aus wie New York, geprägt aber vom Kommerz, weniger von Kultur. Die Doppelstöckerbusse - jeder eine rasende Werbefläche -  brummen wie wilde Hornissen durch die Stadt. Pausenlos und immer zu schnell. Einer kippt um, wie wir in der Zeitung lesen. Ein Toter, mehrer Schwerverletzte. Mit zu hoher Geschwindigkeit in eine Kurve gegangen. Das erstaunt uns nicht, als wir uns von einem dieser Maschinen über Hong Kong Island tragen lassen, eine Kurve um die andere, nach Stanley und weiter zum Shek O Beach. Es ist heiss und feucht. Etwas neblig zwar, aber trotzdem toll für ein Bad im lauen Meer. Ich schwimme mit Tim auf das draussen vertäute Floss. Das Schild lesen wir erst später. “Wegen Unterhaltsarbeiten wurde das Hai-Netz vorübergehend entfernt”. Und: “Sorry for any inconvenience caused”. Ist doch nett, wenn sich wenigstens jemand entschuldigt, wenn man das Bein abgebissen gekriegt hat. Als Rache quasi machen wir uns in einem der zahllosen Seafood-Restaurants über Krabben und Scampi her. Göttlich.


Auch das ist Hongkong: Zahllose Fluchtpunkte aus dem Grossstadt-Dschungel. Die New Territories, zwar zunehmend von den immensen Vorort-Siedlungen überzogen, welche die Slums ersetzt haben, aber immer noch weitgehend bewaldet. Subtropischer Dschungel. Wanderwege über sanfte Hügel, durch kühles Grasland. Dann die Outlying Islands, die vielen kleinen Inseln vor der Küste, die richtig romantisch sind. Cheung Chau etwa. Autofrei, Strassencafés, Wander- und Velowege. Wir mieten Velos und gondeln über die Insel, baden am Afternoon Beach. Oder Sai Kung in den New Teritories, wo uns ein Sampan zum Picknick auf eine kleine Insel bringt. Am Pier verkaufen Fischer den Fang direkt an die Besucher. Eine Unmenge an Getier. Krabben. Hummer, Langusten, Schnecken. Tintenfische. Kalmare. Jede erdenkliche Fischart. Grouper. Papageienfische. Die Restaurant bieten die gleiche Auswahl in ihren riesigen Tanks. Doch die Preise sind stolz: Gegen 100 Franken für einen anständigen Hummer. Wir verzichten und landen wieder beim billigen Inder.


Gibt es eine Stadt, die besser organisiert ist und effizienter funktioniert als Hongkong? Ich bezweifle es. Der öffentliche Verkehr läuft schlicht perfekt. Die Metro ist schnell, hell, modern und fährt in allen Richtungen alle paar Minuten. Selten wartet man irgendwo auf eine Verbindung. Dann die Busse. Eines der dichtesten Netze der Welt. Die doppelstöckigen Trams. Die Fähren. Die Star Ferry. Perfekt. Und überall ist alles prächtig angeschrieben. Hinweisschilder, Pläne und Karten. Ankündigungen über den Lautsprecher über alle möglichen Gefahren und Risiken, die doch noch drohen könnten - “Beware of Pickpockets” - und mit guten Wünschen: “Enjoy your Day in Hongkong”. Das übertrifft an obrigkeitlicher Fürsorglichkeit selbst die USA, die damit ja auch nicht geizen. Und sauber ist diese Stadt. Brigaden von Putzequipen sammeln alles sofort ein, die Strände sind stets piekfein gesäubert, es hat Toiletten mit Papier, Umkleidekabinen und Duschen und Fahrradabstellplätze. Der Clou: Selbst die kleinen Sandkästen, in denen die Hunde ihr Geschäft zu machen freundlich aufgefordert werden, sind morgens jeweils frisch gerecht. Unglaublich. Will man sich da noch aufregen, dass am Strand eigentlich alles verboten ist, was Spass macht: Ball spielen. Musik hören. Frisbee spielen. Fischen. Drachen steigen lassen. Alles mit entsprechendem Piktogramm. Vielleicht aber, denkt man, ist alles einen Tick zu steril. Etwas langweilig gar. Und ist die Frage ketzerisch, ob die Maschine nur deshalb derart perfekt geölt wird, dass Geschäft und Kommerz nicht gestört werden?


Hier spielt der Markt. In jeder Beziehung. Ob virtuell, mit Elektronik, Schmuck, Kleidern, Tieren oder Lebensmitteln. Die Auswahl an Kuriositäten ist exquisit. Singvögel in Drahtkäfigen oder gerupft im Jutesack. Krabbengetier aller Art. Goldfische, die durch Züchtungen und Kreuzungen dazu gebracht wurden, Fettklopse anzusetzen oder über den Augen rote Pompons zu entwickeln, als wären sie Cheerleader für ein Football-Team. Heilmittel und Kräuter, die sich der westlichen Kenntnis und Beschreibung entziehen. Gedörrte und getrocknete Echsen, Seegurken, Vogelnester und Haiflossen. Es gibt nichts das vier Beine hat, das die Chinesen nicht verspeisen - außer einem Tisch. Wir defilieren über die Märkte, haben bei fast allem keine Ahnung, was das ist und wie es schmeckt, wollen es auch nicht wirklich wissen. Mit der chinesischen Küche kommen wir immer noch nicht klar. Alles wabert und blubbert, Geschmack und Konsistenz behagen uns nicht, zum Glück gibt es Thais und Vietnamesen und Inder.


Als wir die obligate Fahrt auf den Peak machen, beginnt es zu regnen. Die Sicht auf das Häusermeer ist trotzdem erstklassig. Dafür lassen wir einen strahlend schönen Tag im Ocean Park verstreichen, einem von Menschen überschwemmten Vergnügungspark. Uns gefällt die Quallen-Ausstellung, Tim die Delfin-Show. Klar: Auch seine Bedürfnisse wollen beachtet sein, und am Abend schreibt er den längsten Tagebuch-Eintrag der ganzen Reise. Dafür kehrt der Nebel zurück, als ich mit Tim auf Lantau wandern gehe. Männertag, die Mädels zieht es in die Läden. Wir fahren mit der Gondelbahn nach Ngo Ping. Unten starten die Jumbos auf dem Flughafen, oben thront der grösste sitzende Buddha der Welt. Das ganze ist, wen wundert’s, nicht der Spiritualität geweiht, sondern dem Kommerz. Im künstlichen Village gibt es die Multivisions-Show “Walking with Buddha“, unter dem Bronze-Riesen breitet sich - sehr passend - das  Gautama Shopping Plaza aus. Wie war das doch gleich: Wahre Freiheit erreicht, wer allen materiellen Wünschen und Begierden entsagt. Hongkong scheint ein einziges grosses Gefängnis zu sein.


Der Treck über die Insel entschädigt für den Buddha-Nepp. Wir wandern durch karges Grasland, immer auf dem Grat der Hügel, von denen man auf beiden Seiten das südchinesische Meer sähe. Nicht heute, denn Nebel wabert über die Kuppen. Macht nichts, die Stimmung ist toll, wir fühlen uns wie im schottischen Hochland. Und wir begegnen auf dem ganzen Treck bloss zwei anderen verirrten Seelen. “Mindestens fünf bis sechs Stunden” haben man für die Strecke nach Tai O zu rechnen, hatte man uns im “Wilderness Centre“ gewarnt, und mit einem so kleinen Jungen sei das doch ein bisschen gefährlich, denn es gehe ein paar Mal steil bergauf. Wir schaffen es in weniger als drei Stunden. “Chinesentempo”, grinst Tim, als wir durch dichten Wald und Eukalyptus-Alleen dem Ziel zu stapfen.

Der Winter bricht herein. Seit exakt 54 Jahren habe es im Norden Chinas nicht mehr soviel geschneit im November, schreiben die Zeitungen. Dutzende Menschen starben, als ihre Häuser unter der Schneelast kollabierten. Und schon machen Kritiker das “Wolken impfen” für den Schnee verantwortlich, die Versuche der chinesischen Behörden, jeweils zu wichtigen Ereignissen die Niederschläge zu vertreiben. Oder ist es einfach die bereits alltägliche Feststellung, dass das Klima einfach verrückt spielt, wohin man auch kommt. Monsunregen zu Unzeiten in Nepal, schwere Dürre im Süden Chinas, Schneestürme im November. Wie auch immer: Der Kälteeinbruch erreicht auch Hongkong, just als wir uns für die letzen zwei Tage zur Erholung auf Lamma Island zurückziehen. 12 Grad. Eisiger Wind.


Schlimm ist’s nicht. Die Insel ist verkehrsfrei und traumhaft ruhig. Tim badet sogar nochmals im Meer, am Strand direkt vor unserem gemütlichen kleinen Hotel. Wir spazieren in Faserpelz und Windjacke über die Insel und freuen uns auf die Wärme und die Farben und Gerüche Indiens, die uns erwarten. Wir schreiben und lesen und schlafen. Lamma ist eine Fischerinsel, die vor einiger Zeit von europäischen Expats entdeckt wurde. Viele leben hier, pendeln mit der Fähre in 25 Minuten nach Central, keine schlechte Idee. Es gibt Läden, die Roquefort, Baguette und Rohschinken verkaufen, perfekt für ein Picknick. Und wir entdecken das Bookworm-Café. Tolle vegetarische Küche, gute Musik, Kaffee und Kuchen. Bücher zum schmökern. Das Motto des sympathischen Betriebs: “Live simple, so others can simply live“. Nett, aber in Hongkong eine ziemlich exotische Einstellung.

Dienstag, 17. November 2009

Versöhnung mit China


Das Outside Inn ist genau so, wie wir uns dies vorgestellt haben. Ein Hort der Ruhe inmitten einer idyllischen Landschaft, außerhalb von Yangshuo, im Norden der Provinz Guangxi. Das Guesthouse wurde von einem Holländer in einem alten Bauernhof auf- und umgebaut, es besteht aus zwei langgezogenen Häusern aus gelben Lehmbacksteinen, wie sie in der Region früher üblich waren und heute (noch) zu sehen sind, mit Ziegeln gedeckt. Dazu ein paar Familienhäuser, Küche und Empfang. Ein wunderbarer Pavilion, unter dem man draussen isst, ein paar Hängematten im Garten, ein Billardtisch. Die Zimmer sind gross und bequem, gemütlich, sauber und preiswert. Und ohne Fernseher - einfach perfekt.

Nadine und Michael, sie Schweizerin, er Engländer, leiten das Guesthouse seit 15 Monaten. Zuvor waren sie zwei Jahre mit ihren beiden Jungs Lenny und Desmond in Asien unterwegs und danach wieder ein Jahr in der Schweiz - bevor sie das Angebot erhielten, das Outside Inn zu übernehmen. Sie tun es mit viel Liebe und Geduld, Bescheidenheit und Aufmerksamkeit, mit grosser Begeisterung auch für Yangshuo, für China und die Chinesen. Und ihre positive Energie strahlt auf den ganzen Ort ab, gibt ihm Charme und eine Aura, in der man sich sofort wohl fühlt. Wir ruhen uns erst mal aus, lesen, schreiben Mails, geniessen das hervorragende (chinesische und westliche) Essen; Tim spielt mit Alex, dem jungen Dackel, und macht brav seine Aufgaben am Tischchen im Hof, versucht sich mit Desmond und Lenny anzufreunden, was vorerst schwierig ist, da die beiden zwar deutsch verstehen, es aber kaum sprechen.

Der Morgen giesst hundert Grautöne durch unser Fenster, einer trüber als der andere. Doch der Nebel löst sich bald in klare Bläue auf, und wir erleben zehn Tage herrliches Herbstwetter: etwas Nebel am Morgen, der sich bald auflöst, sonst strahlenden Sonnenschein von früh bis spät, 25 Grad. Und der Herbst beginnt die ersten Blätter mit einem Hauch von gelb zu überziehen  - was will man mehr? Wir mieten Velos, fahren dem Yulong-Fluss entlang, der sich wie der gewundene Rücken eines Drachens durch das breite Tal zieht. Die Landschaft scheint  nicht von dieser Welt. Kegel aus Karst stossen jäh aus dem Boden, wohin man blickt. Aufgereiht wie in einer Bowlingbahn. Sie erinnern an Kamelhöcker. An Nadelkissen. An Leuchttürme in einem Meer aus wogendem gelben Reis. Es ist Erntezeit, die Bauern stehen in den Feldern, konische Hüte auf dem Kopf, schneiden und dreschen und binden die Garben zu runden Ballen. Ja: So haben wir uns die chinesische Idylle vorgestellt in unseren Träumen. Und hier existiert sie tatsächlich noch. Balsam für die Seele. Natürlich sind wir nicht die einzigen, welche diese Landschaft geniessen wollen. Auf dem Fluss lassen sich chinesische Touristen auf Bambusflossen hinauf- und hinunterrudern. Dabei bespritzen sie sich johlend und kreischend mit Wasserpistolen, die es am Ufer zu kaufen gibt. Und in der Mitte des Flusses sind schwimmende Snack-Buden vertäut.


Yangshuo, der Li River und seine Karstfelsen gehören zu den wichtigsten Zentren des chinesischen Tourismus, an Popularität etwa auf gleicher Höhe wie die Grosse Mauer und Beijings Verbotene Stadt. Die archetypische chinesische Landschaft. Tausendfach fotografiert. Hundertfach gezeichnet in der klassischen chinesischen Malerei. Auf dem 20-Yuan-Geldschein verewigt. Einfach das, was man sich so vorstellt, wenn man an China denkt. Urtümlich. Aber inzwischen touristisch stark erschlossen. Yanghsuo ist in 20 Jahren von einem Fischerdorf zu einer Stadt mit 300’000 Einwohner geworden. Es hat Dutzende von Hotels und Restaurants und eine Fussgängerzone voller Souvenir-Läden, die so proper und herausgeputzt ist als stände sie in einem der “plus jolies villages de France”. Trotzdem ist das Städtchen angenehm, alles ist blitzsauber, denn eine ganze Armee von Strassenwischerinnen - mit Gesichtsmaske gegen Keime geschützt - räumt jeden Abfall blitzschnell weg. Der Stadtpark ist renoviert, der Spielplatz nett. An Tischchen spielen die Männer Mah-Jong und Karten. Yangshuo ist reich, das spürt man, der Tourismus hat seine Spuren hinterlassen. Sieht so das China der Zukunft aus: saubere neue Wohnblocks am Rand der Stadt, die wie Krakenarme immer weiter zwischen die Karstpfeiler vordringen?


Und auch in den Dörfern wird gebaut. In Chau Long, wo das Outside Inn steht, wird das Guesthouse wohl bald das einzige traditionelle Lehmziegelhaus sein, das noch übrig bleibt und Zeugnis ablegt von den alten Zeiten. Kann man es den Menschen verübeln? Die modernen Betonbauten, an der Vorderseite gekachelt, haben Strom und fliessend Wasser, sind an die Kanalisation angeschlossen und haben Broadband-Anschluss. Will in der Schweiz jemand ohne das leben? Oder gibt es doch noch eine Chance für die traditionelle Bausubstanz? Nadine erzählt, dass schon viele Journalisten bei ihnen waren und Reportagen gemacht haben über die sanfte Renovation alter Gebäude. Die gestaunt hätten, dass man die alten Mauern nicht abreissen müsse, um drinnen komfortabel zu leben. Und dass die renovierten Häuser so ja viel wohnlicher seien als die modernen Klötze. Doch der Gedanke des “schöner wohnen” ist neu in China, denn man muss sich das auch erst leisten können. Aber er verbreitet sich, das Umdenken wird sichtbar. Auch was den Umweltschutz betrifft. Nirgends haben wir so viele Elektro-Roller gesehen wie in Yangshuo. Der Grund: Wie in vielen anderen chinesischen Städten werden schlicht keine neuen Benzin-Töffs mehr zugelassen. Verfügung der Stadt-Regierung, die sich nicht um langwierige Prozesse demokratischen Interessenausgleichs kümmern muss. Sondern handelt. Wind- und Sonnenenergie erleben einen Boom, der im Westen kaum wahrgenommen wird.


Was man deutlich spürt: In China herrscht eine “just do it”-Stimmung. Die Menschen sind optimistisch, zufrieden. Schauen mit Mut in die Zukunft. Und sind von einer Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft, die dem China-Klischee des rauen und spuckenden Rüpels, das wir in unseren Köpfen hatten, diametral widerspricht. Selten zuvor haben wir auf unseren Reisen nettere Menschen angetroffen. Durchgehend. Selten zuvor sind wir fröhlicheren Menschen begegnet. Es wird gelacht und geplappert und gefeiert. Man spürt die Zufriedenheit und den Stolz der Menschen auf ihr Land, das auf der Welt wieder Gewicht bekommen hat und in den letzten Jahrzehnten Gewaltiges erreicht hat. Kritik an der Regierung, erzählt uns Nadine, höre man selten. Denn dies schaffe ja die Bedingungen dafür, dass jeder, der sich anstrenge, es zu etwas bringen kann. Und dabei fackelt man nicht lange: In Yangshuo wurden nach einem tödlichen Heissluft-Ballon-Unfall alle Ballone konfisziert, das Fliegen ist vorerst verboten, Dutzende verloren ihren Job und ihr Geschäft. Schon am nächsten Tag erzählten zwei Piloten, sie hätten einen neuen Business-Plan entwickelt: Autowaschanlagen, die Vorbereitungen seien bereits in vollem Gang. In der Schweiz würde man zuerst lange lamentieren und dann von der Regierung Entschädigung fordern.

Diese Erfahrungen - und lange Gespräche mit Nadine - beginnen uns mit China zu versöhnen. Und auch mit dem chinesischen Tourismus. Vielleicht ist es ja ganz gut, dass die einheimischen Touristen nur in grossen Gruppen reisen. Und sich oft für ganz andere Dinge interessieren als wir Westler. So sind sie fasziniert vom neuen Shangri-La-Village am Li River, einer künstlichen Welt, wo traditionelle Dörfer und Brücken nachgebaut wurden, wo es moderne Läden hat und Ethno-Tanz-Darbietungen zu geniessen sind. Das indessen interessiert die meisten West-Touristen herzlich wenig, die sich - wie wir - lieber auf dem Bauern-Markt in einem der umliegenden Dörfer umschauen. Auch wenn wann mit anhören muss, wie junge Hunde in engen Körben winseln, bevor sie heraus gerissen und verkauft werden. Was danach mit ihnen passiert, bleibt der Phantasie überlassen. Solche Szenen sind den chinesischen Touristen wiederum eher peinlich, die nicht verstehen, weshalb wir es spannend finden, auf einem Hinterwäldler-Markt herumzuschnüffeln und zuzusehen, wie Fische ausgenommen, Zähne gezogen, dubiose Potenzmittel verkauft und Furunkel mit Feuer ausgebrannt werden. Und so berühren sich die beiden Touristengruppen kaum. Wenn sie es trotzdem tun, bleibt es bei einem “Nihau” und einem Lächeln.

 
Auch im Outside Inn gibt es selten chinesische Gäste. Wenn sie kommen, sagt Nadine, benehmen sie sich nicht selten ziemlich daneben, behandeln die Angestellten von oben herab. Die Transformation vom Menschen zum Touristen. Die Westler bewahren dagegen (meist) ihren Anstand, wenn sie reisen. Oder Teile davon. Und es hat viele Langzeit-Reisende unter ihnen, die auch lange im Guesthouse bleiben. Wie Roli und Karin aus Baar mit ihren Zwillingen Simon und Eric. Sie sind ein Jahr unterwegs. Kirgistan, Usbekistan, Russland, von Norden durch China. Bali. Australien. Neuseeland, Südsee. Der ganze Turnus rundum. Wir verstehen uns auf Anhieb, unternehmen gemeinsame Ausflüge, gehen velofahren und klettern, plaudern, blödeln. Toll, mal Zeit zu haben, nichts zu tun, von Stunde zu Stunde zu entscheiden, auf was man gerade Lust hat - oder halt nicht. Und Tim fühlt sich pudelwohl, spielt Billard, neckt die Hunde, macht einen Kung Fu-Kurs mit den Jungs und freut scih über das feine Essen, die Pizzas und Spaghettis. Mit chinesischem Essen hat nach wie vor sein liebe Mühe. Wir auch. Ausser mit dem Lemon Chicken und der gebratenen Ente. Die sind köstlich hier.


Renate aus Steffisburg sitzt oft im Pavilion und büffelt chinesische Vokabeln. 4000 muss sie können für die Prüfung der Universität Shanghai. Aber das ist alles hochchinesisch, und mit den Leuten wirklich sprechen könne sie trotzdem noch nicht besonders gut, erzählt sie uns Da hilft die Lehrerin, die jeden Tag hinkommt und zwei Stunden Konversation in Umgangssprache macht. Renate lebt seit 3 Jahren in Shanghai. Schön, finden wir. Doch sie hat langsam genug von der Stadt, wo ihr Partner für eine Schweizer Maschinefabrik arbeitet. Genug von den vierstündigen Fahrten, bis man endlich im Grünen ist und frische Luft atmen kann. Nun geht es bald nach hause. Aber nicht direkt, sondern mit dem Velo. 15 Monate der Seidenstrasse entlang, mit Zelt, Schlafsäcken und dicken Packen auf dem Gepäckträger. Dann  sitzen zwei Finnen herum, ein englisches Paar auf Weltreise und der Shanghai-Foto-Korrespondent der “Volkskraant”. Ein bärbeissiger Mensch, dem der Verdruss ins Gesicht geschrieben steht. Er setzt sich ungefragt an jeden Tisch, schiebt Tassen beiseite, klappt den Laptop auf, schürzt die Lippen und versinkt ins Betrachten seiner Fotos. Ob er damit jemanden stört, kümmert ihn nicht.


Mr. Bean trifft ein. Er heisst zwar Bing und ist Chef der lokalen Behörde, welche Visa verlängert, Ausländern Arbeitsbewilligungen erteilt und entzieht und dafür sorgen muss, dass alle Reisenden in den Hotels ordnungsgemäss angemeldet sind. Ein wichtiger Mann also. Seine Brille ist riesig, die Gläser sind dick wie Flaschenböden. Und wenn er sich bewegt, fuchtelt er mit den viel zu langen Armen wild durch die Luft als wollte er Fliegen fangen. Dazu spricht er englische Brocken in einer Stakkato-Stimme und stösst gurgelnde lachende Laute aus. Mit Mr. Bean muss man auf gutem Fuss stehen. Und heute kommt er mit einer Delegation von 15 noch wichtigeren Männern (und zwei Frauen). Sie sind seine Vorgesetzten, die Kommission für Fragen der Ausländer-Sicherheit aus Nanning, der Hauptstadt der Provinz Guangxi. Sie wollen das Hotel inspizieren. Bing schient nervös, aber das ist vielleicht nur seine Art. Und Michael ist wie immer die Ruhe selbst, obschon er in abgeschabten Jeans erwischt wird, während die Besucher alle fein geputzt sind. Man führt sie durch das Gelände und durch ein paar Zimmer. Zeigt, dass das Gerät funktioniert, mit dem alle Pässe gescannt und direkt nach Nanning übermittelt werden. So kann die Behörde die Spuren jedes Besuchers lückenlos verfolgen und sicherstellen, dass ihnen nichts geschieht. So lautet ihr Auftrag. Natürlich ist im Outside Inn alles in bester Ordnung. Zwei deutsche Strassenmusiker, ebenfalls hier zu Gast, spielen zum Abschied auf Geige und Harmonika zwei Zigeunerweisen. Fotografieren, klatschen, lachen, Hände schütteln. Und man verabschiedet sich im Wissen, dass die wichtige Beziehung heute gut gepflegt wurde.


Roli ist SAC-Jugendleiter und erfahrener Kletterer. Er mietet Seile und Kletterfinken für alle. Und wir radeln zum Baby Frog, einem zünftigen Karstbrocken nicht weit hinten im Yulong-Tal. Roli steigt vor, die Kids balgen sich um die nächsten Plätze. Tim ist Feuer und Flamme fürs Klettern und steigt ohne Angst in die Routen ein. Er sieht die Griffe und Tritte gut und kraxelt problemlos einige 25 Meter Wände hoch. Chapeau. Die Kulisse ist traumhaft, das Klettern macht Spass, auch wenn abends Finger und Zehen schmerzen. Nadine nimmt uns auf eine Wanderung aufs Lost World Plateau mit. Direkt vom Guesthouse aus einen Pass hoch und zwischen Karstmonstern hindurch. Wir mieten Velos und fahren dem Fluss entlang zum Moon Hill, einem Felsen mit mondförmigem Loch, über 1200 Treppenstufen über der Ebene.


Der Li River ist zur Schiffs-Autobahn verkommen. Zwischen Guilin und Yangshuo  verkehren täglich Dutzende von Ausflugsbooten, oft liegen nur 100 Meter zwischen den Dampfern, auf dem sich die Touristenmassen den Felsen mit den Fabelnamen entlang schippern lassen: Neun-Pferde-Fresko. Schildkröte steigt auf einen Berg. Neun Drachen überqueren den Fluss. Undsoweiterundsofort, alles ist benannt und auf den Ausflugskärtchen verzeichnet. Wir brechen unser Versprechen gegenüber Mr. Feng, dem eulenhaften Führer, und gehen zu Fuss, das schönste Stück zwischen Yangdi und Xingping. Der Weg führt zuerst über Felder, dann immer dem Li entlang. Die Felsen ragen oft direkt aus dem Fluss in die Höhe. Zweihundert, dreihundert Meter. Vertikale Wände, vor denen selbst der kräftigste SAC-Mann kapitulieren müsste. Dazwischen Bambus-Haine. Und die milde November-Sonne taucht den Himmel in klares Licht. Schon beim Mittags-Picknick röhren die Ausflugsdampfer flussaufwärts wieder an uns vorbei. Dann wird es ruhig. Und schließlich geben wir den penetranten “Bamboo Bamboo”-Rufen nach, steigen auf eines der Bambus-Flosse und lassen uns die letzte Stunde auf dem Fluss trieben. Wir bereuen es nicht, denn vor uns liegt eine der spektakulärsten Flusstrecken der Welt. Mit turmhohen Felsen und kleinen Inseln, auf denen Wasserbüffel weiden. Bis hinunter zu dem Ort, der auf der 20-Yuan-Note zu sehen. Rummelplatz mit tausenden von Fotografen. Aber was soll’s? Schön ist es alleweil.



Unten am Yulong, nur zehn Minuten vom Outside Inn, liegt ein Ort, der die Seele jubeln lässt. An der Biegung des Flusses wächst der Bambus hoch. Am Ufer steht der zerfallene Torbogen eines Tempels. Der Reis ist reif und hat eine gelbe Decke über das breite, topfebene Tal gelegt, bis hin zu den schrullig geformten Felsen, die in allen Richtungen den Blick einfangen. Ich gehe immer wieder hin. Allein. Am schönsten ist es, wenn die Sonne die ersten Strahlen über die Kegel  schickt und zartes Licht durch den Nebel filtert, der noch auf dem Fluss liegt. Das  Wasser ist glatt und wirft ein perfektes Spiegelbild, bis ein Vogel  auffliegt und kleine Wellen über die glitzernde Fläche zittern. Dann gleitet ein Fischer auf seinem Floss vorbei. Unten am Damm hört man die Frauen plappern, während sie Wäsche waschen. Ein Mädchen radelt auf dem Damm zwischen den Feldern vorbei, gefolgt von einem bellenden jungen Hund. Ein alter Mann treibt eine Schar schnatternder Gänse in die Felder. Zwei Wasserbüffel ziehen dem anderen Ufer entlang. Man weiss, es ist nicht real. Doch man möchte einfach immer hier sitzen bleiben, schauen, staunen und glauben, so sei die Welt.