Sonntag, 15. November 2009

Abenteuer Wal-Mart


Er steht immer noch da, der Genosse Mao. Die Hand zum Gruss erhoben, den starren Blick geradeaus. Als ob immer noch er das Land in die oft versprochene bessere Zukunft führte, die erst dann begann, als er nicht mehr war und sich China aus dem Wahnsinn seiner wirren ideologischen Ideen zu befreien begann. Aber gefallen sind seine Statuen nicht. Noch nicht. In Guiyang bietet das Umfeld des Mao-Kolosses aus weissem Stein indessen ein Bild, dass dem Chairman keineswegs behagen würde. Wie wenn sich die Geschichte so subtil am früheren Führer rächen wollte, dass der Bildersturz gleich obsolet wird. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Platz des Volkes, markieren zwei Glaspyramiden, dem Louvre abgekupfert, die Eingänge zum unterirdischen Wal-Mart, der grössten Supermarktkette der Welt. Nimmt man das Gedränge vor den Rolltreppen als Massstab, wird der Laden vom Volk mit Sicherheit inniger geliebt als jede Parade, die oben je über den Platz stolzierte. Rechts von Mao dröhnt Musik, zu der sich im Park Paare jeden Alters schwungvoll drehen. Und links wird unter Bäumen an kleinen Tischen mit Karten und Würfeln gezockt als gäbe es kein morgen. Kapitalismus. Musik und Tanz. Geldspiel. Die Übel der dekadenten bourgeoisen Lebensart hübsch versammelt. Direkt unter Maos Augen. Ob der Widerspruch noch jemand anderem als dem Besucher aus dem Westen auffällt, ist mehr als fraglich. Immerhin wird noch gewischt vor der Statue. Und niemanden stört’s, als Tim dem Chairman einen Tannzapfen ans Bein kickt.


Es regnet in Guiyang. Wie üblich hier. Also runter ins Reich der Walton Brothers. Und auch sie würden sich wundern, wie ihr Shop hier transformiert worden ist. Gleich beim Eingang die Abteilung mit lebendigem Getier. Die Fische kann man sich selbst mit einem Netz aus dem Tank fischen, wo einige Exemplare schon mit dem Bauch nach oben schwimmen. Zu gedrängt ist der Platz in den kleinen Becken. Hat man einen Karpfen im Netz, lässt man ihn in einen Plastiksack gleiten, wo er zuckt, bis er verreckt. Wenn er mit den verzweifelten Schwanzschlägen bloss nicht die Schweinohren besudelt. Neben den Fischen diverse Algen. Frösche. Kröten. Aale. Krabben. Krebse und Schnecken. Dann folgt die nächste Stufe in der Verwandlung 
des Tieres zum Lebensmittel, die Zerstückelung. Hühnerfüsse. Schweinenasen. Kuhmagen. Dann wird es etwas appetitlicher, die Kadaververwertung hat zivilisierte Formen angenommen. Abgepackte und vakuumierte Würste. Fleischbällchen. Schwämme. Pilze. Rinde. Lange Reihen Teigtaschen, Töpfe mit eingelegtem Gemüse, Gewürzen, Früchten, kandiertem Irgendwas, frittiertem Sowieso. Bekannt kommt uns kaum etwas vor, angeschrieben ist alles auf chinesisch. Wir sind feige und kaufen Birnen und Rüebli und Schokolade - und zu guter letzt doch noch ein fettiges Fischküchlein. Es schmeckt grausig.


Wir geben nicht auf, kaufen Fleischspiesschen beim Uiguren. Lecker. Dann eine Art Algen-Burger, die an jeder Ecke angeboten werden, offenbar der lokale Snack. Man bringt’s runter, wenn es denn sein muss. Dann kommen wir an einer Bäckerei vorbei, ganz im europäischen Bistro-Stil gehalten. Wer kann denn da widerstehen? Es gibt Capuccino, Tiramisu, Schwarzwälder-Torte, Dänisch Plunder, Brot. Wir kaufen Toast für die nächsten paar Tage, schauen den schicken chinesischen Oberschicht-Ladies zu, die ihre Söhnchen hierher ausführen. Oder ist es der Geliebte? Und um das Mass voll zu machen, landen wir am Abend im Kentucky Fried Chicken. Nuggets und Texan Chicken Wrap. Wir wissen, dass noch ganz andere Zeiten auf uns zukommen werden. Dann ins weiche Bett des Motel 168. Den amerikanischen Motelketten abgeschaut, nur besser und billiger. Zwei grosse Betten, warme Duvets, ein piekfeines Badezimmer. Eine Dusche mit gut 10 Sprühfunktionen, daneben Familienpackungen Shampoo und Body Foam. Gratis Internet im Zimmer. Pantoffeln. Trinkwasser. Teekocher. Was will man mehr? Und alles für 30 Franken. Wir schlafen zufrieden ein.

Guiyang, Kapitale der Provinz Guizhou, hat rund drei Millionen Einwohner und ist damit die kleinste aller chinesischen Provinzhauptstädte. Die Stadt hat ein Verkehrsproblem, doch wir werden später merken, dass sie damit in China nicht alleine steht. Busse, Autos, Lastwagen wälzen sich über achtspurige Express-Strassen. Alles ist verstopft. Leuchtreklamen. Hochhäuser. Abgas. Hupen. Läden. Shops. Und Shops. Und Läden. Jeder Zentimeter wird benutzt, um irgendetwas unter die Leute zu bringen. Läden gibt’s an jeder Strasse. Läden gibt’s in Unterführungen. In Überführungen. In Hotels. In Passagen. In kleinen und grossen Gassen. Überall. Und zu kaufen gibt es alles. Vor allem Kleider. Dann Elektronik. Und Telefone. Einiges im Luxus-Segment, von Gucci bis Armani. Doch das meiste schäbiger Schrott, billigste Massenware. Eingesprenkelt sind Myriaden Essensstände, mit frittierten Kartoffeln und garstig blubbernden Brühen voller konturloser Fleischstücke. Es scheint drei Hauptbeschäftigungen zu geben für Chinesen: einkaufen, essen, telefonieren. Kommerz pur. Klar, man weiss, dass China in den letzten zwei Jahrzehnten eine Entwicklung durchgemacht hat, so schnell und so tief wie wohl kein Land zuvor in der Geschichte. Trotzdem. Wir sind leicht schockiert.

Immerhin: Auch das “alte China” taucht immer wieder auf. Mah-Jongg-Spieler im Park, Seelenverkäuer aller Art, die irgendwelche Heilmittel anbieten, Frauen mit Hühnern, welche die Zukunft voraussagen könne, je nachdem, in welche Schriftrolle sie picken. Ein paar verlorene Tempel und Pavillons, Oasen der Ruhe im Gewühl der Menschen und Maschinen. Und die Freundlichkeit der Menschen. Wir können uns zwar nicht verständigen, kein Mensch spricht ein Wort englisch. Keiner. Niemand. Nichts. Aber irgendwie schaffen wir es, mit Gesten und mit einzelnen chinesischen Wörtern, die im Reiseführer stehen. Und stets begleitet uns ein Lachen, freundliche Blicke. Distanz auch. Aber Respekt. Wir werden kaum beachtet, außer wenn wir den Kontakt suchen, fühlen uns im grossen und ganzen sehr wohl.

Wir schlagen uns zum Busbahnhof durch, fahren nach Huaxi, dann mit dem Minibus nach Qingyan, einer Garnisonsstadt aus der Ming-Zeit. Die Vorstädte Guiyangs sind eine industrielle Wüste. Baustelle an Baustelle. Dreck, Staub, Schlamm. Die Plattenbauten sind am zerbröseln, daneben entstehen neue, moderne Wohnsiedlungen, Reihe an Reihe, bis an den Horizont. Immerhin sind einige hellblau gestrichen. Wir fahren an Parkplätzen für Baumaschinen vorbei: Hunderte von Baggern mit Schaufeln in jeder Form und Grösse. Bulldozer, Betonmischer. Dann Lastwagen. Tieflader, Kippfahrzeuge. Gabelstapler. Himmelhohe Krane. Ist es wegen der Krise, dass all das Gerät am Strassenrand auf den nächsten Einsatz wartet? Und wenn all diese Maschinen derzeit still stehen, wie viele sind es wohl, die trotzdem noch in Betrieb sind? Die Dimensionen des chinesischen Wirtschaft-Booms verursachen ein flaues Gefühl im Magen.


Qingyan gibt uns einen ersten Eindruck vom chinesischen Massentourismus. Das Städtchen ist ganz hübsch, Tempel und Pagoden aus der Ming-Zeit, gepflasterte Gassen, aus grauen Steinen gebaute Häuser mit eindrucksvollen Innenhöfen. Doch die Altstadt ist tot, blosse Fassade für eine Kette von Souvenirläden. Es ist Sonntag, und trotz des strömenden Regens patrouillieren Tausende chinesischer Touristen durch die Tempel und Strassen und lassen sich die hiesige Spezialität schmecken: Brühe mit Schweinefüssen. Wir verzichten und machen uns auf den Rückweg.


Die ersten zwei Tage in China lassen uns verwirrt zurück. Das Land vibriert, dampft, kocht. Das spürt man nach der ersten Stunde hier. Es finden Umwälzungen statt, die wir uns gar nicht ausmalen können. Die zu gewaltigen Verwerfungen führen, die wir ahnen, aber nicht wirklich sehen. Es ist spannend, herausfordernd, interessant. Aber nicht wirklich schön oder lieblich im Sinne einer Ästhetik, die uns berührt. Wo sind die Farben? Es gibt nur grau, blau, grün, alles im dunklen Bereich der jeweiligen Palette. Wo ist das Rot? Ausser auf Tims Regenjacke? Unser Gefühl schwankt zwischen Faszination und Abscheu. Oder ist es nur der dauernde Nieselregen, der auf Gemüt schlägt. Morgen geht es aufs Land. Wir sind gespannt.

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