Sonntag, 2. Mai 2010


Es geht zu Ende, wir wissen es. Aber wir sind bereit. Wir waren mehr als vier Monate unterwegs. Haben drei Länder kennen gelernt. Haben uns selber neu kennen gelernt. Allein und wie wir miteinander funktionieren. Oder eben nicht, zuweilen. Es war eine tolle Erfahrung, die wir nie vergessen werden. Nun geht es bald nach Hause. Auch schön. Doch lassen wir zum Abschluss Tim erzählen, wie er die zwei letzten Tage dieser grössten Reise seines Lebens erfahren hat. Direkt und wörtlich aus seinem Tagebuch.


„Um am Birdwatching teilzunehmen mussten wir schon um halb sieben aufstehen. Kaum traten wir, das heisst: ich, Papa und Guide, vors Haus da entdeckte ich eine 40cm grosse Wasserschlange die in einem Kanal davon schwamm. Aber eigentlich waren wir ja wegen den Vögel hier nicht wegen den Schlangen. Wir sahen sogar aussergewöhnlich viele, nähmlich 16 Arten. Ein gelber Oriol, eine weissbrüstige Wasserhenne, zwei schwule Spechte (wirklich, denn bei Spechten kann es zu Homosexualität kommen), drei verschiedene Reiherarten, ein grüner Papagei, ein Kolibri, eine Pfeifente und so weiter.


Dann fuhren wir mit einer Rikscha nach Allepey und von dort mit einem Bus nach Ernakulam. Papa fuhr mit der Fähre nach Kochi um das Gepäck zu holen. Ich blieb im Hotel Broadway Tower und guckte fern. Dann fuhren wir zum Shiva Tempel und schauten die Elefanten an, die für die morgige Parade parat standen. Wir verbrachten den Abend im Tempelgenbiet und assen in einem vornehmen Hotel.


Am Morgen nahmen wir das letzte indische Frühstück zu uns. Dann machten wir uns auf zu einer Bäckerei, um Rasgullas und andere Süssigkeiten zu kaufen. Dannach gingen wir zurück zum Hotel und machten eine Siesta bis 14 Uhr. Um 14 Uhr fuhren wir zum Shiovas Tempel. Dort fanden schon seit 6 Tagen Poojas und andere Festlichkeiten statt.


Als wir ankamen startete gerade eine Elefantenparade, mit drei Elefanten. Die Leute gaben den geschmückten Dickhäutern Bananen und Cocosnüsse. Voran gingen 80 Musikanten. Am Abend knallten immer wieder Feuercracker und es war bewundernswert, dass die 11 Elefanten, die in einer Reihe standen, nicht die Selbstbeherrschung verloren.


Auf den Elefanten standen Männer mit Wedeln und farbigen Schirmen. Um 20 Uhr war es vorbei und wir schliefen noch 5 Stunden bis zum Flug.


Um 2 Uhr Morgens fuhren wir mit einer Rikscha zum Flughafen. Wir hatten ein gstürm mit dem Ticket aber flogen dann doch. Nach vier Stunden erreichten wir Doha. Wir hatten zwei Stunden Aufenthalt. Dannach sassen wir wieder im Flugzeug. In den 5 Stunden schaute ich drei Filme. Dann endlich erreichten wir das verschneite Zürich. Schnee, Juhee. In Zürich trafen wir den Bruder meines Vaters und assen etwas Kleines. Dann fuhren wir mit dem Zug nach Bern und von dort mit dem Auto meines Opas in die Aumatt. In der Aumatt ging ich sofort zu meinem Freund Leo.

Ich hatte gemischte Gefühle, wieder in Bern zu sein. Einerseits würde ich gerne weiterreisen, aber andererseits bin ich froh, wieder bei meinen Freunden zu sein.“


So sah es Tim. Und auch wir sind gespalten. Froh, wieder mal allein im eigenen Bett zu liegen, wehmütig, dass das grosse Abenteuer, auf das wir uns so lange gefreut hatten, bereits zuende ist. Das Leben ist ein Fluss, man weiss es ja inzwischen, und doch ist es beängstigend, wie schnell die Strömung manchmal ist. Schon stehen wir wieder auf dem Balkon, schauen ins Schneetreiben zwischen den nackten Ästen der Platane im Hof, und fragen uns: Waren wir überhaupt weg von hier? Oder ist es genau das, was Heimat ausmacht? Wo hinkommen und das Gefühl haben, man sei immer schon hier gewesen?

Bereits beginnen aber auch schon die Gedanken zu kreisen über die nächste Reise. China? Eher Nein, zu modern, zu grau. Nepal? Sicher wieder, es gibt noch viele Gipfel und Pässe, die locken, und dahinter liegt Tibet.... Indien? Ja, klar, von mir aus schon morgen wieder. Aber nicht der Süden, zu nahe an Südostasien, das wir recht gut kennen, auch wenn die Kultur natürlich eine ganz andere ist. Aber der Norden Indiens, wo wir – rückblickend gesehen – viel zu wenig Zeit verbrachten. Da gibt es noch einiges, Rajasthan, dann hinauf in den indischen Himalaya.... Bloss wann?


Etwas noch: Tim, Du warst ein toller Reisekumpel. Unkompliziert, offen, voller Abenteuergeist, geduldig. Warst nie krank, hast klaglos und mit der Zeit gar mit grosser Lust Curries und Dosas mit allem drum und dran vertilgt. Warst unbeeindruckt von Chaos, Lärm und Staub und Hitze. Kurz: Wir hätten uns nie träumen lassen, dass alles so problemlos verlaufen könnten. Chapeau.... Und für all jene, die sich wegen der Schule nicht auf eine grosse Reise trauen: Tim war blitzschnell wieder integriert, ja war weiter im Stoff als die Klasse. Und hat sich unterwegs auch sozial derart positiv entwickelt, dass man eigentlich nur zu einem einzigen Schluss kommen kann: Ein paar Monate Time-Out von der Schule müssten obligatorisch sein – ein Sprung hinaus ins Leben, der ein KInd weiter bringt als ein Dutzend Bücher und Hefte.

Hinter dem Wasser


Ja, genau so, wie man sich das vorgestellt hat, ist es auch: Die Reisfelder grün und satt. Die Reiher weiss und zahlreich, ihr Flügelschlag fast lautlos, wenn sie in eleganten Kreisen von Palme zu Palme ziehen. Die Kanäle ruhig und friedlich, eingerahmt von dichtem Blattwerk, befahren von Kanu paddelnden Fischern in farbigen Dhotis. Die Sonne am Abend rot und prall. Und vom anderen Ufer des Flusses lassen sich Trommeln, Zimbeln und Gesänge vernehmen. Perfekt. Ein Stück reinen Kitschs, direkt dem Tourismus-Prospekt von „God's“ Own Coutnry“ entsprungen, wie sich Kerala selbst bewirbt. Toll, wenn die Realität tatsächlich mal den Träumen entspricht, welche die Werbung geschaffen hat.


Wir sind in den Backwaters, jenem System von Kanälen, Flüssen und Lagunen, das sich südlich von Cochin der Küste entlang zieht. Herzstück des Tourismus in Kerala, tausendfach beschrieben und fotografiert. Für uns die letzte Station vor der Heimreise. Nochmals tief durchatmen, nochmals ausspannen, ein paar Tage baumeln, bevor es zurück geht. Wir haben uns in den Green Palms Homes einquartiert, einem Homestay auf einer Insel in der Nähe von Allepey. Auf die obligate Hausboot-Tour haben wir verzichtet, nach zu vielen negativen Kommentaren von Reisenden, die wir getroffen hatten. Zum Glück, denn die Kähne, die uns auf den Kanälen begegnen, sind wahre Ungetüme: Riesige Barken, hinten röhrt die Air Condition, vorne thronen die Gäste mit Champagner-Gläsern auf Korbstühlen. Über 1000 Hausboote gibt es bereits, bei der Ausfahrt aus Allepey bilden sich Staus, am Abend legen sie in langen Reihen am gleichen Ort an. Von Romantik keine Spur.


Der Abschied von Odayam war uns einmal mehr schwer gefallen. Nach ein paar Tagen am Strand hat man sich eingelebt, gesehen, was es zu sehen gibt. Dann käme die Phase des völligen Nichtstuns – und man muss wieder weiter. Selbst vier Monate sind zu wenig, um wirklich immer ganz frei entscheiden zu können, von Tag zu Tag, ob man nun noch bleiben will oder nicht. Doch das Homestay ist gebucht, die Rikscha bringt uns nach Kollam, dieses patente Gefährt, das uns nun durch halb Indien begleitet hat. Gelb-schwarz im Norden, grün-gelb im Süden, immer Quelle stinkender Schwaden, stets präsent, wenn man sich irgendwohin bewegen will. Reisen in Indien ist unvorstellbar ohne die knatternden Blechkisten, und nach ein paar Wochen hat man die Preisstruktur derart gut im Griff, dass sogar das dauernde Feilschen um den Preis Spass zu machen beginnt.


Acht Stunden Fähre später sind wir in Allepey. Das Gefährt ist voller Touristen, Inder legen die Strecke im Bus oder Zug zurück. Dafür tuckern wir am nächsten Tag mit dem lokalen Boot auf die Insel. Sie hält am kleinsten Pier, den engen Kanälen entlang. Für ein paar Rupies das gleiche Erlebnis wie mit dem teuren Hausboot. Wir haben Instruktionen bekommen: Bei der St. Joseph's Church aussteigen - Kathrin bekommt Heimweh - dann rechts dem Wasser entlang bis zum grossen zweistöckigen Haus. Hier liegt das Green Palm Homestay, wo sich Thomas, Philipp und Daniel eine nette Nische aufgebaut haben. Alle drei Brüder sind in England ausgebildet, haben lange dort gelebt und wissen entsprechend genau, was die Rucksack-Touristen wollen. Sportliche Aktivitäten, Ausflüge, Kultur, Einblicke ins Dorfleben und Hintergrund-Informationen.


Doch das Homestay ist etwa gar kommerziell aufgezogen und etwas gar teuer. Und selbst der europäische Hintergrund der Besitzer hat nicht dazu geführt, dass man dem Aussenraum etwas mehr Aufmerksamkeit widmen würde. Es scheint irgendwie tief in der indischen Seele festgeschrieben zu sei, dass man draussen alles einfach schmeisst und es dann dort liegen lässt. Schade, denn der Garten des Homestays, direkt am Kanal gelegen, böte wunderbare Erholung in lauschigen Ecken. Wenn denn in der lauschigen Ecke eine Hängematte aufgehängt wäre oder ein gemütlicher Sessel stände und nicht ein Schutthaufen oder verrostende Eisenrohre.


Immerhin zwingt das dazu, Exkursionen in die Umgebung zu unternehmen. Und das lohnt sich. Wir mieten uns drei klapprige Velos, setzen mit dem Boot über den Fluss, verfahren uns in den Strässchen durch Reisfelder und den Kanälen entlang, drehen eine Runde im Kreis, bis wir über Brücken und winzige Wege zum Ziel finden: dem 30 Meter langen Rennboot, das in einem mit Palmblättern gedeckten Schuppen vor sich hin modert. Einmal pro Jahr wird es für die Drachenboot-Rennen verwendet. Hoffentlich wird vorher untersucht, ob es noch dicht ist. Am Abend spazieren wir quer über die Insel und werden auf der anderen Seite vom Guesthouse-Team mit dem Ruderboot empfangen, das uns unter lautem Absingen traditioneller Lieder zurück stakt. Perfekter Abschluss des Tages: Wasserbüffel-Curry mit warmen Parotha.


Wasserhyazinthen sind das grosse Problem der Backwaters. Das – und mehr - erfahren wir von Philipp auf der grossen Insel-Exkursion. Die blauen Blüten sind hübsch anzusehen, aber wachsen rasend schnell und verstopfen die Kanäle, bis kein Durchkommen mehr ist. Verantwortlich dafür ist die Überdüngung der Felder. Tim wird immer selbstbewusster, quetscht unseren Guide aus und beginnt sein Englisch umzusetzen: Er fragt einen der Männer, die mit Körben voller Sardinen auf den Velos vorbeikommen, nach dem Preis: 60 Rupies das Kilo, also etwa 1 Franken 50. Und er hört Philipp aufmerksam zu, fragt nach, will es wissen.Vor allem, wie man aus dem Tamarinden-Blatt eine Trompete bastelt. Oder ein anderes Blatt derart bricht, dass ein Saft austritt, der sich zu Seifenblasen pusten lässt. In düsteren Schuppen wird Toddy angeboten, eine Art Palmwein. Er stinkt nach Käsefondue. Die ersten Heimweh-Halluzinationen?

Montag, 1. Februar 2010

Getrennte Welten


Wir sind gespalten, schwanken hin und her, manchmal zweimal täglich. Indien zehrt an den Nerven. Vielleicht ist es auch das 24-Stunden-pro-Tag-Zusammensein. Die fehlende individuelle Freiheit. Das immer aufeinander Rücksicht nehmen und Kompromisse suchen müssen. Und trotzdem verspüren wir eigentlich keine Lust, nach hause zurückzukehren. Ausser Tim, der seine Freunde vermisst und wohl eine Überdosis Mama und Papa abgekriegt hat in den letzten Monaten. Und sich zu fragen beginnt, ob es wohl noch genügend Schnee habe in der Schweiz zum schlitteln und Skifahren. Nur eines ist klar: Wenn es noch weiterginge, würden wir alle gerne in einen anderen Kulturkreis wechseln. Weg von Indien, so sehr wir das Land und seine Menschen auch ins Herz geschlossen haben. Neuseeland wäre nicht schlecht. Berge und Trecking. Und ein Land, wo man nicht gleich von weitem als reicher Tourist in die Augen sticht.  


Doch wir sind in Varkala. Auch gut. Zum Glück aber nicht wirklich in Varkala, sondern ein paar Kilometer weiter nördlich, in Odayam. Unser Guesthouse liegt auf einer kleinen Klippe in einem Palmengarten. Viel Schatten. Hängematten. Ein paar Stühle und Tische vorne an der Klippe, wo der Blick auf den weiten grauen Strand fällt und auf die Gischt der Brecher, die aus dem arabischen Meer herein rollen. Zweifellos ein weiterer Kandidat auf einen Spitzenplatz im Wettbewerb um das schönste Klassenzimmer der Welt. Was bei Tim indessen nicht dazu führt, dass er sich mit mehr Enthusiasmus hinter die Hausaufgaben setzt.


Zu attraktiv sind die Ablenkungen. Kokosnüsse werden geerntet. Im Restaurant nebenan lebt Bolt, ein kleiner weisser Hund, den Tim sogleich ins Herz schliesst. Fischer setzen ihre Boote auf den Strand und ziehen die Netze ein. Tim will unbedingt mit anpacken und erhält als Belohnung einen Kalmar geschenkt, der abends ins Curry wandert. Und dann das klare Wasser und die Wellen. Wir verbringen Stunden mit Surfen. Lassen und von den Brechern und Strudeln auf den harten Sand klatschen. Und dösen in den Tag hinein. Auch das Wetter ist traumhaft. Toll, wenn man weiss, dass der Himmel morgen genau so blau sein wird wie heute.


Noch ist es ruhig und gemütlich in Odayam. Nicht mehr als zehn kleine Pensionen säumen den Strand. Doch in ein paar Jahren wird es hier ähnlich aussehen wie vorne in Varkala, 20 Minuten Fussmarsch entfernt. Auf dem North Cliff ist kein Zentimeter freier Platz mehr. Restaurant neben Bar neben Ayurveda-Klinik. Aufgetakelte Italienierinnen konkurrieren mit halbnackten betrunkenen Russen um die Auszeichnung um den abstossendsten “Homo Turisticus”. Ein Ort zum Sofort-wieder-verlassen.


Der Strand bietet immerhin Anlass zu einigem Amusement. Im nördlichen Teil tummeln sich die ausländischen Besucher. Sie liegen im Sand, wie das Touristen halt so tun. Meditieren. Geben sich dem Yoga hin. Stets beäugt von Gruppen patrouillierender indischer Männer, die ihre Blicke begierig auf das weisse Fleisch richten, das sie so sonst nirgends zu sehen kriegen. Im südlichen Teil knüpfen die Inder ihre Dhotis hoch und lassen die Flügel im Winde spielen. Die Frauen schürzen ihre Saris, waten ein paar Meter in die Gischt und lassen sich die Füsse umspülen, beobachtet von fotografierenden Touristen. Getrennte Welten, die sich nicht durchmischen. Zu fremd sind die Kulturen, die hier aufeinander prallen.


Wir ziehen uns zurück nach Odayam, lassen die Tage verstreichen. Wir besuchen eine Katthakali-Aufführung, das klassische Kerala-Theater. Spazieren stundenlang auf den Klippen, schauen den Fischern zu. Kathrin lässt sich massieren, Tim und ich liegen in der Hängematte und denken mit Schrecken an die Kälte, die uns schon bald wieder umfassen wird. Noch ist es noch nicht soweit. Noch surfen wir täglich in den Wellen. Doch der Countdown läuft.

Montag, 18. Januar 2010

Orgie der Farben


Es ist schön, wieder unterwegs zu sein. Mitten im indischen Alltag, den zu erleben wir ja eigentlich hierhin gekommen sind. Das Reisen in rumpelnden Bussen. Kurve um Kurve. Tal um Tal. Hügel um Hügel. Es ist eng. Beengend zuweilen. Zuerst kalt, oben in den Teeplantagen. Dann drückend heiss, als wir die Ebene erreichen. Man kann sich dagegen wehren, sich aufregen. Oder besser: Man gibt sich dem Unvermeidlichen hin, lässt sich schaukeln, findet sich damit ab. Dann kann auch die mühsamste Busreise zum Genuss werden. Zum Erlebnis mit meditativem Charakter fast. Aber nur fast.


Madurai ist vor allem staubig. Und laut und hektisch. Wie jede indische Stadt halt. Zudem haben die Städte Südindiens - wenigstens die, die wir kennen gelernt haben - im Vergleich zu jenen des Nordens in bezug auf das Stadtbild wenig zu bieten. Das ist mit Madurai nicht anderes. Ausser um den Sri Meenakshi-Tempel. Das Bauwerk selbst ist eine Orgie aus Farben. 14 Gopuras - Tempeltürme - unterschiedlicher Höhe schiessen in den blauen Himmel. Jeder ist übersät mit Stuck-Figuren von Göttern und Dämonen, als würden sie um den knappen Platz am Turm ihre Titanenschlachten kämpfen. Alle zehn Jahren werden die Figuren neu gestrichen - letztmals 2008. Und so leuchten sie in allen Farben einer Palette, die keine Schattierung ausgelassen hat.

Doch das ist nur der Anfang. Der Meenakshi-Tempel ist eine Stadt in der Stadt. Im äussersten Hof haben sich die Schneider nieder-
gelassen. Sie sitzen in langen Reihen hinter ihren fussbetriebenen Maschinen und nähen alles nach Mass zusammen, was man nur will. Spottbillig und innert weniger Stunden. Daneben gibt es Tempelbedarf. Von Kampferlämpchen über Glöckchen bis zu kitschigen Götterstatuen aus farbigem Plastik. Ein Papagei wählt für Tim aus einem Stapel mit Götterbildern seinen Favoriten aus. Es ist Ganesh, der Elefantengott, Sohn von Shiva und Parvati, Gott des Lernens, des Erfolgs, des Reichtums und des Friedens. Kommt uns alles sehr gelegen.


Im Innern des Tempels zieht es Tim denn auch sofort zum Tempelelefanten. Doch Segnungen kosten hier für Ausländer 10 Rupies, für Inder eine Rupie. Wir lassen es bleiben. Das Sanktum der beiden Schreine für Shiva und Meenakshi, eine der Gefährtinnen Shivas, sind für Nicht-Hindus zwar geschlossen. Doch der Tempel, belebt vom Fruchtbarkeitskult um Shiva und Meenekshi, bietet auch sonst genügend Attraktionen. Täglich strömen gegen 15’000 Gläubige in die schummrigen Höfe, in deren Wände immer wieder kleine Schreine eingelassen sind. Priester tragen eine Statue auf einer Sänfte durch die Gänge. Männer entzünden Kampfer in bronzenen Lampenspiralen. Frauen übergiessen eine Ganesh-Statue mit Milch.

Wie Religion und Spiritualität das Leben durchdringen und ganze Städte dominieren, ist für uns ungewohnt und schwer nachzuvollziehen. Aber umso beeindruckender. So ist Madurai jetzt, gegen Mitte Januar, voller schwarzer Männer. Schwarzer Dhotui, schwarzes Hemd, gelber Schal, Holzketten um den Hals. Es sind Ayyappa-Pilger, die zum Sri Ayyapa Waldtempel Sabarimala in den Bergen Keralas ziehen, wo sich zum Sankranti-Festival gegen 1,5 Millionen Männer versammeln. Frauen sind von dieser nach der Hadj nach Mekka zweitgrössten Pilgerfahrt der Welt ausgeschlossen. Und wie es in Männergemeinschaften halt ist: Mann ist ausgelassen, laut und kämpferisch. Vor unserem Hotel sammeln sich die Pilger zur Abfahrt in überfüllten Jeeps. Die enge Gasse wird unpassierbar, von beiden Seiten schieben sich Rikschas, Autos und Lastwagen heran, keiner gibt nach, bis sich ein hupender Knäuel bildet. Ein amüsantes Schauspiel, von oben betrachtet. 


Das Chaos setzt sich auf dem Gemüsemarkt fort. Noch liegt er direkt neben dem Tempel, aber in zwei Monaten soll er wie schon der Blumenmarkt an den Stadtrand verlegt werden, um das Verkehrsaufkommen im Zentrum einzudämmen. Das ist verständlich, denn vor den Markthallen ist kein Durchkommen mehr. Säcke mit Kohl und Ballen von Palmblättern werden abgeladen und in die Hallen getragen. Dort werden die Palmblätter in lärmigen Auktionen versteigert, die damit enden, dass das Bündel mit Gebrüll auf den Boden geworfen wird. Die Palmblätter werden in Tamil Nadu als Teller gebraucht. Zum anrichten der köstlichen “Meals”, der Dosas, Idlis und Vadas.


Wir hätten uns nie träumen lassen, dass wir selbst zum Frühstück saure Reiskuchen mit scharfen Saucen verspeisen würden. Und danach fast süchtig werden. Auch Tim, der zuhause eher zurückhaltend ist mit dem Ausprobieren neuer Gerichte und Geschmäcker. Doch die tamilische Küche ist schlicht lecker, das Essen spottbillig, die Restaurant in ihrer effizienten Einfachheit ein Erlebnis. Tim entwickelt sich zudem zum Experten für Chai, der in Tamil Nadu in einer Schale plus in einem Becher serviert wird. Um ihn zu kühlen, giesst man die süsse braune Köstlichkeit hin und her.


Wir ziehen weiter nach Trichy. Es ist Pongal, das tamilische Neujahr und Erntedankfest. Die Züge sind überfüllt und vollgestopft mit Gepäck, denn zu Pongal besucht man die Familie. Kaut Zuckerrohr, isst süssen Reis und Ingwer, bedankt sich bei den Kühen für die Ernte mit einem Festmahl. Und kauft neue Kleider, damit auch die Händler etwas davon haben. Die Attraktionen Trichys liegen ausserhalb der Stadt. Der Vishnu-Tempel in Srirangam und das Rock Fort. Der Tempel ist weitläufiger, aber weniger prächtig als jener in Madurai. Aber wir haben, wie so oft, Glück. Prozessionen sind im Gange, und die Gruppen bärtiger, halbnackter Priester sind so gesprächig wie exotisch.


Das Rock Fort - oben steht ein Ganesh-Tempel, den Tim unbedingt besuchen wollte - ist am nächsten Tag indessen geschlossen. Wegen der Sonnenfinsternis, die um elf Uhr beginnt, wird uns mitgeteilt. Wir helfen uns mit dem Kauf einer Ganesh-Statue, nehmen eine Rikscha und fahren hinaus zum Planetarium, wo das Ereignis, so denken wir am besten mitzuerleben ist. Es ist keine totale Sonnenfinsternis, aber immerhin eine der seltenen ringförmigen, wo der Mond die Sonnen in einen Bangle verwandelt. Zwei Schweisser-Masken sind vorhanden. Immerhin. Und in langen Reihen steht man an, um einen geschützten Blick auf das Spektakel zu erhaschen.


Wir sind in Indien. Und ordentliche Organisation ist gewiss keine Stärke dieses Volkes. So liegen die versprochenen Schutzbrillen natürlich nicht in genügender Anzahl auf und treffen erst im letzten Moment ein, als sich das Licht bereist zu verdüstern beginnt. Panik bricht aus, die Menge stürzt sich in einem wilden Knäuel auf den armen Kerl, der die Brillen verteilen will. “Queue, please, queue, please”, schreit er in einem fort. Ein frommer  Wunsch, denn wer hat schon mal einen Inder in einer geordneten Schlange  stehen sehen? Eine Schlägerei beginnt, Männer reissen sich die gelben Brillchen und wüsten Beschimpfungen aus den Händen.


Tim versucht’s und wird eingekeilt (wer erkennt ihn auf dem Bild oben?). Taucht ohne Brille aus dem Knäuel auf. Aber immerhin unverletzt. Seltsam: Neben all der Gelassenheit, Ruhe und Spiritualität, die Inder ausstrahlen, blitz plötzlich diese Aggressivität, ja Brutalität auf, im Kampf um Nichtigkeiten. Ein Sitzplatz im Bus. Eine Schutzbrille. Jeder für sich und Gott gegen alle. Weshalb dieser Egoismus, diese Gleichgültigkeit auch gegenüber anderen Menschen, sofern sie einem nicht nahe stehen. Bloss ein Massenphänomen? Oder doch eine indische Spezialität, wie man den Eindruck hat, da solche Ausbrüche zwischenmenschlicher Brutalität in anderen Ländern kaum zu sehen sind. Eine verwirrende Facette im indischen Kaleidoskop jedenfalls.


Die Eklipse ist dagegen fast weniger spannend als das Umfeld. Wir ergattern irgendwie doch noch ein Schutzbrille, schauen zu, wie sich der Mond langsam vor die Sonne schiebt. Das Licht wird düster, diffuse Schatten legen sich übers Land, und man kann plötzlich an der Sonne stehen, ohne Hitze zu spüren. Immerhin. Doch das Licht geht nicht wirklich aus wie bei einer totalen Finsternis, so wie wir unbedarfte Laien uns das vorgestellt hatten.


Indische Achterbahn. Wir hatten die Nase voll von den Idyllen um Kannur und den Touristenfalle Kochi. Wollten wieder eintauchen ins den prallen indischen Alltag. Doch nach einer Woche haben wir schon wieder etwas genug von Lärm und Staub und Hektik. Das Reisen in Indien ist zwar einfach und problemlos, aber trotz allem anstrengend. Vielleicht sind wir auch schon etwas (zu) lange unterwegs. Abnützungserscheinungen. Zu viele, noch nicht wirklich verarbeitete Eindrücke? Wir setzen uns in einen Nachtzug und fahren zurück nach Kerala. Sleeper Class. Etwas laut und eng, aber problemlos. Wir haben nur noch zwei Wochen unserer Reise vor uns. Die Zeit zerrinnt. Und was noch bleibt, wollen wir in Ruhe am Meer und in den Backwaters verbringen.