Montag, 18. Januar 2010

Orgie der Farben


Es ist schön, wieder unterwegs zu sein. Mitten im indischen Alltag, den zu erleben wir ja eigentlich hierhin gekommen sind. Das Reisen in rumpelnden Bussen. Kurve um Kurve. Tal um Tal. Hügel um Hügel. Es ist eng. Beengend zuweilen. Zuerst kalt, oben in den Teeplantagen. Dann drückend heiss, als wir die Ebene erreichen. Man kann sich dagegen wehren, sich aufregen. Oder besser: Man gibt sich dem Unvermeidlichen hin, lässt sich schaukeln, findet sich damit ab. Dann kann auch die mühsamste Busreise zum Genuss werden. Zum Erlebnis mit meditativem Charakter fast. Aber nur fast.


Madurai ist vor allem staubig. Und laut und hektisch. Wie jede indische Stadt halt. Zudem haben die Städte Südindiens - wenigstens die, die wir kennen gelernt haben - im Vergleich zu jenen des Nordens in bezug auf das Stadtbild wenig zu bieten. Das ist mit Madurai nicht anderes. Ausser um den Sri Meenakshi-Tempel. Das Bauwerk selbst ist eine Orgie aus Farben. 14 Gopuras - Tempeltürme - unterschiedlicher Höhe schiessen in den blauen Himmel. Jeder ist übersät mit Stuck-Figuren von Göttern und Dämonen, als würden sie um den knappen Platz am Turm ihre Titanenschlachten kämpfen. Alle zehn Jahren werden die Figuren neu gestrichen - letztmals 2008. Und so leuchten sie in allen Farben einer Palette, die keine Schattierung ausgelassen hat.

Doch das ist nur der Anfang. Der Meenakshi-Tempel ist eine Stadt in der Stadt. Im äussersten Hof haben sich die Schneider nieder-
gelassen. Sie sitzen in langen Reihen hinter ihren fussbetriebenen Maschinen und nähen alles nach Mass zusammen, was man nur will. Spottbillig und innert weniger Stunden. Daneben gibt es Tempelbedarf. Von Kampferlämpchen über Glöckchen bis zu kitschigen Götterstatuen aus farbigem Plastik. Ein Papagei wählt für Tim aus einem Stapel mit Götterbildern seinen Favoriten aus. Es ist Ganesh, der Elefantengott, Sohn von Shiva und Parvati, Gott des Lernens, des Erfolgs, des Reichtums und des Friedens. Kommt uns alles sehr gelegen.


Im Innern des Tempels zieht es Tim denn auch sofort zum Tempelelefanten. Doch Segnungen kosten hier für Ausländer 10 Rupies, für Inder eine Rupie. Wir lassen es bleiben. Das Sanktum der beiden Schreine für Shiva und Meenakshi, eine der Gefährtinnen Shivas, sind für Nicht-Hindus zwar geschlossen. Doch der Tempel, belebt vom Fruchtbarkeitskult um Shiva und Meenekshi, bietet auch sonst genügend Attraktionen. Täglich strömen gegen 15’000 Gläubige in die schummrigen Höfe, in deren Wände immer wieder kleine Schreine eingelassen sind. Priester tragen eine Statue auf einer Sänfte durch die Gänge. Männer entzünden Kampfer in bronzenen Lampenspiralen. Frauen übergiessen eine Ganesh-Statue mit Milch.

Wie Religion und Spiritualität das Leben durchdringen und ganze Städte dominieren, ist für uns ungewohnt und schwer nachzuvollziehen. Aber umso beeindruckender. So ist Madurai jetzt, gegen Mitte Januar, voller schwarzer Männer. Schwarzer Dhotui, schwarzes Hemd, gelber Schal, Holzketten um den Hals. Es sind Ayyappa-Pilger, die zum Sri Ayyapa Waldtempel Sabarimala in den Bergen Keralas ziehen, wo sich zum Sankranti-Festival gegen 1,5 Millionen Männer versammeln. Frauen sind von dieser nach der Hadj nach Mekka zweitgrössten Pilgerfahrt der Welt ausgeschlossen. Und wie es in Männergemeinschaften halt ist: Mann ist ausgelassen, laut und kämpferisch. Vor unserem Hotel sammeln sich die Pilger zur Abfahrt in überfüllten Jeeps. Die enge Gasse wird unpassierbar, von beiden Seiten schieben sich Rikschas, Autos und Lastwagen heran, keiner gibt nach, bis sich ein hupender Knäuel bildet. Ein amüsantes Schauspiel, von oben betrachtet. 


Das Chaos setzt sich auf dem Gemüsemarkt fort. Noch liegt er direkt neben dem Tempel, aber in zwei Monaten soll er wie schon der Blumenmarkt an den Stadtrand verlegt werden, um das Verkehrsaufkommen im Zentrum einzudämmen. Das ist verständlich, denn vor den Markthallen ist kein Durchkommen mehr. Säcke mit Kohl und Ballen von Palmblättern werden abgeladen und in die Hallen getragen. Dort werden die Palmblätter in lärmigen Auktionen versteigert, die damit enden, dass das Bündel mit Gebrüll auf den Boden geworfen wird. Die Palmblätter werden in Tamil Nadu als Teller gebraucht. Zum anrichten der köstlichen “Meals”, der Dosas, Idlis und Vadas.


Wir hätten uns nie träumen lassen, dass wir selbst zum Frühstück saure Reiskuchen mit scharfen Saucen verspeisen würden. Und danach fast süchtig werden. Auch Tim, der zuhause eher zurückhaltend ist mit dem Ausprobieren neuer Gerichte und Geschmäcker. Doch die tamilische Küche ist schlicht lecker, das Essen spottbillig, die Restaurant in ihrer effizienten Einfachheit ein Erlebnis. Tim entwickelt sich zudem zum Experten für Chai, der in Tamil Nadu in einer Schale plus in einem Becher serviert wird. Um ihn zu kühlen, giesst man die süsse braune Köstlichkeit hin und her.


Wir ziehen weiter nach Trichy. Es ist Pongal, das tamilische Neujahr und Erntedankfest. Die Züge sind überfüllt und vollgestopft mit Gepäck, denn zu Pongal besucht man die Familie. Kaut Zuckerrohr, isst süssen Reis und Ingwer, bedankt sich bei den Kühen für die Ernte mit einem Festmahl. Und kauft neue Kleider, damit auch die Händler etwas davon haben. Die Attraktionen Trichys liegen ausserhalb der Stadt. Der Vishnu-Tempel in Srirangam und das Rock Fort. Der Tempel ist weitläufiger, aber weniger prächtig als jener in Madurai. Aber wir haben, wie so oft, Glück. Prozessionen sind im Gange, und die Gruppen bärtiger, halbnackter Priester sind so gesprächig wie exotisch.


Das Rock Fort - oben steht ein Ganesh-Tempel, den Tim unbedingt besuchen wollte - ist am nächsten Tag indessen geschlossen. Wegen der Sonnenfinsternis, die um elf Uhr beginnt, wird uns mitgeteilt. Wir helfen uns mit dem Kauf einer Ganesh-Statue, nehmen eine Rikscha und fahren hinaus zum Planetarium, wo das Ereignis, so denken wir am besten mitzuerleben ist. Es ist keine totale Sonnenfinsternis, aber immerhin eine der seltenen ringförmigen, wo der Mond die Sonnen in einen Bangle verwandelt. Zwei Schweisser-Masken sind vorhanden. Immerhin. Und in langen Reihen steht man an, um einen geschützten Blick auf das Spektakel zu erhaschen.


Wir sind in Indien. Und ordentliche Organisation ist gewiss keine Stärke dieses Volkes. So liegen die versprochenen Schutzbrillen natürlich nicht in genügender Anzahl auf und treffen erst im letzten Moment ein, als sich das Licht bereist zu verdüstern beginnt. Panik bricht aus, die Menge stürzt sich in einem wilden Knäuel auf den armen Kerl, der die Brillen verteilen will. “Queue, please, queue, please”, schreit er in einem fort. Ein frommer  Wunsch, denn wer hat schon mal einen Inder in einer geordneten Schlange  stehen sehen? Eine Schlägerei beginnt, Männer reissen sich die gelben Brillchen und wüsten Beschimpfungen aus den Händen.


Tim versucht’s und wird eingekeilt (wer erkennt ihn auf dem Bild oben?). Taucht ohne Brille aus dem Knäuel auf. Aber immerhin unverletzt. Seltsam: Neben all der Gelassenheit, Ruhe und Spiritualität, die Inder ausstrahlen, blitz plötzlich diese Aggressivität, ja Brutalität auf, im Kampf um Nichtigkeiten. Ein Sitzplatz im Bus. Eine Schutzbrille. Jeder für sich und Gott gegen alle. Weshalb dieser Egoismus, diese Gleichgültigkeit auch gegenüber anderen Menschen, sofern sie einem nicht nahe stehen. Bloss ein Massenphänomen? Oder doch eine indische Spezialität, wie man den Eindruck hat, da solche Ausbrüche zwischenmenschlicher Brutalität in anderen Ländern kaum zu sehen sind. Eine verwirrende Facette im indischen Kaleidoskop jedenfalls.


Die Eklipse ist dagegen fast weniger spannend als das Umfeld. Wir ergattern irgendwie doch noch ein Schutzbrille, schauen zu, wie sich der Mond langsam vor die Sonne schiebt. Das Licht wird düster, diffuse Schatten legen sich übers Land, und man kann plötzlich an der Sonne stehen, ohne Hitze zu spüren. Immerhin. Doch das Licht geht nicht wirklich aus wie bei einer totalen Finsternis, so wie wir unbedarfte Laien uns das vorgestellt hatten.


Indische Achterbahn. Wir hatten die Nase voll von den Idyllen um Kannur und den Touristenfalle Kochi. Wollten wieder eintauchen ins den prallen indischen Alltag. Doch nach einer Woche haben wir schon wieder etwas genug von Lärm und Staub und Hektik. Das Reisen in Indien ist zwar einfach und problemlos, aber trotz allem anstrengend. Vielleicht sind wir auch schon etwas (zu) lange unterwegs. Abnützungserscheinungen. Zu viele, noch nicht wirklich verarbeitete Eindrücke? Wir setzen uns in einen Nachtzug und fahren zurück nach Kerala. Sleeper Class. Etwas laut und eng, aber problemlos. Wir haben nur noch zwei Wochen unserer Reise vor uns. Die Zeit zerrinnt. Und was noch bleibt, wollen wir in Ruhe am Meer und in den Backwaters verbringen.

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