Freitag, 8. Januar 2010

Tims grosse Enttäuschung


Bisher haben wir längere Strecken mit dem Zug zurückgelegt und Busse vermieden. Zu viele Kurven, zu viele Kamikaze-Fahrer. Doch nun kommen wir nicht mehr darum herum. Wir lassen uns fünf Stunden durchschütteln und kommen gerädert in Madikeri an. Kein Vergleich zur komfortablen Zugreise. Dafür ist jeder kleinste Ort erschlossen. Und die Busse fahren in der Regel alle Stunde in jede gewünschte Richtung. Nicht schlecht.


Madikeri liegt auf dem Coorg-Plateau, einer hügeligen Gegend westlich von Mysore, in die sich selten westliche Touristen verirren. Dafür Massen indischer Besucher aus Mysore und Bangalore, welche die Weihnachtsferien hier verbringen wollen. Schon auf der Fahrt in die Berge hatten uns Dutzende hoch beladener Minivans und kleiner Busse überholt, und wir befürchteten Schlimmes. Tatsächlich sind die meisten Hotels ausgebucht und wir können uns noch knapp ein Zimmer in einer Bruchbude sichern. Zu einem überhöhten Preis, selbstredend.


Madikeri ist potthässlich. Die Stadt zieht sich über ein Paar Hügel hin, die Strassen sind voller Schlaglöcher, die Gebäude scheinen zu zerbröseln, alles starrt vor Schmutz. Der Dreck ist allgegenwärtig, wohin man auch kommt, überall in Indien. Aber einige Orte scheinen die Bemerkung des indischen Umweltminister untermalen zu wollen, der kürzlich sagte, wenn es einen Oscar für das schmutzigste Land der Welt gäbe, Indien würde ihn ohne jegliche Konkurrenz gewinnen. Madikeri ist zweifellos einer dieser Orte. Nasser modernder Abfall. Plastiksäcke. Zerfledderter Karton. Verfaulende Orangen, die einen stechenden säuerlichen Gestank verbreiten. Nach bald zwei Monaten in Indien beginnt der Dreck zu nerven. Diese unglaubliche Vernachlässigung, ja Verachtung des öffentlichen Raumes. Der Missbrauch des Allgemeinbesitzes als Abfallhalde. Ist es Gedankenlosigkeit, mangelndes ästhetisches Bewusstsein? Nachzuvollziehen ist es für uns jedenfalls nicht.


Es beginnt zu regnen. Zum ersten mal, seit wir in Indien sind. Sehr unüblich für diese Jahreszeit, sagt man uns. Aber das unübliche Wetter ist ja inzwischen das normale Wetter. Sofern es dieses noch gibt. Wir machen uns trotzdem mit dem Bus auf nach Bhagamandala und von dort nach Talacauvery, der Quelle des Cauvery, eines der heiligen Flüsse Südindiens. Wir sind nicht die einzigen. Hunderte von Autos und Bussen quälen sich die Serpentinen hoch. Der Parkplatz beim unvermeidlichen Tempel bei der Quelle ist hoffnungslos überfüllt, die Strasse blockiert. In einer langen Reihe stehen die Pilger an, um vom Priester mit heiligem Cauvery-Wasser besprenkelt zu werden. Die ganz mutigen tauchen ins Becken ein und können den Segen ohne Schlange zu stehen empfangen. Tim trifft mit einer Rupie im ersten Versuch das Becken des Nandi-Bullen, das tief unten in einem Brunnen steht. Soll Glück bringen.

Trotzdem giesst es die ganze Nacht wie aus Kübeln, und am nächsten Tag sind die Strassen voller Schlamm. Was den Anblick des Abfalls nicht erträglicher macht. Wir mieten uns den ganzen Tag ein Taxi, es klart auf, und wir fahren zum Dubare Elephant Camp. Ein Paradies für Tim, der sich halt immer noch am meisten für Tiere begeistern kann. Ob es nun streunende Hunde und Katzen sind oder eben - und umso besser - Elefanten. In Dubare trainiert das Karnataka Forest Department 18 Elefanten. Sie sind primär eine Touristenattraktion, kommen aber auch in Tempelfestivals und bei Prozessionen zum Einsatz. Auch hier ist der Andrang tausender indischer Ausflügler gewaltig. Doch Tim lässt es sich nicht nehmen, bei Waschen der Dickhäuter mitzuhelfen und schiebt ihnen danach Banane um Banane in den Mund. Selbst ein kurzer Ritt ist drin. Alles gegen entsprechende Bezahlung natürlich.

Die zweite Attraktion ist das Goldene Kloster in Bylakuppe. Seit den 60er Jahren leben hier Tibeter und haben inzwischen eine der grössten tibetischen Gemeinschaften ausserhalb ihrer Heimat aufgebaut. 20’000 Tibeter sind in der Gegend ansässig, davon 8000 Mönche. Das Zentrum ist das Goldenen Kloster von Namdroling, ein - oh Wunder - blitzsauberes Gelände mit lang gestreckten Wohnblocks für 2000 Mönche, die sich um den Tempel gruppieren. Das Heiligtum ist keine 20 Jahre alt, strahlt aber eine Kraft und Ruhe aus, die sich wohltuend vom Chaos ausserhalb der Mauern abhebt. Die Gebetshalle ist beeindruckend. Farbenfrohe Wandmalereien schmücken alle vier Seiten, zwei Drachensäulen fassen die riesigen goldenen Statuen dreier Buddhas ein. Wir setzen uns an den Boden und geniessen die Pracht.

Coorg ist Coffee Country. Sanft geschwungene Hügel - man nennt sie hier Berge -, auf denen früher Dschungel wuchs. Auf den höchsten Gipfeln steht dieser immer noch, doch in tieferen Lagen ziehen sich die Kaffee-Plantagen übers Land, beschattet von den Bäumen, die der Kultivierung der Gegend nicht weichen mussten. Ein Estate reiht sich ans andere, die meisten haben heute auch Gästezimmer. Die Strassen durch diese liebliche Gegend sind indessen miserabel. Und so dauert unsere Busfahrt nach Tholpetty, unserem nächsten Ziel, fünf Stunden. Für 100 Kilometer. Wir müssen dreimal umsteigen, doch immerhin klappen die Verbindungen, und nach zehn Minuten bricht der nächste Bus jeweils auf. Wir staunen.



Trotzdem ist das Bus fahren ermüdend. Das eingequetscht sein in enge Stuhlreihen. Die Schlaglöcher, die kein Ende nehmen. Aber auch ein Erlebnis, das einen nahe an die Menschen bringt, die in dieser Gegend leben. Sie nehmen die Enge und das Schütteln und Holpern stoisch hin. Stundenlang, ohne sich zu beklagen. Nur wenn es ans ein- oder aussteigen, ist es vorbei mit Ruhe und Gelassenheit. Noch bevor alle Passagiere ausgestiegen sind, drängt sich die Traube der Wartenden schon in den Bus. Rücksichtnahme. Fehlanzeige. Und wenn man einen Sitz hat, macht jeder die Schultern breit, um den Platz auf den letzten Zentimeter zu verteidigen. Vielleicht wird man so, wenn man in einer Land mit 1,1 Milliarden Menschen aufwächst, wo Raum ein kostbares Gut ist. Wo man nie allein reist. Wo es für ganz viele Menschen schlicht keine Privatsphäre gibt.

Tholpetty ist der wahre Dschungel, ein Wildlife Sanctuary, das bereits in Kerala liegt. Wir quartieren uns im Pachyderm Palace ein, dem Dickhäuter-Palast, einem Homestay direkt am Parkeingang.  Es gibt Elefanten hier, Wildschweine, Bisons, Wildrinder und sogar Tiger und Leoparden. Tim freut sich wie ein kleines Kind. Ist er ja auch. Auch wenn er uns zuweilen, ziemlich altklug, und langatmig wie der Vater, die kulturellen Unterscheide zwischen Nord- und Südindien erklärt. Darauf hinweist, dass im Süden viel mehr Männer traditionelle Kleider, den Dhoti oder Lunghi, trügen. Und dass der Süden viel reicher sein müsse, weil man viel mehr grosse neue Häuser sehe.


Doch am nächsten Morgen kommt die grosse Enttäuschung. Da es zuviel geregnet hat, dürfen keine Jeeps mehr in den Park. Die Strassen sind zu schlammig. Und auf den Treck zu Fuss dürfen Kinder unter 15 Jahren nicht mit. Sie könnten zu wenig schnell fliehen, heisst es, falls ein Elefantenbulle angreife. Als ob die 65jährigen mit Bierbauch schneller unterwegs wären. Alles insistieren und ein dezentes Bakschisch-Angebot helfen nicht. It’s the law, Sir. Bitter enttäuscht trottet Tim mit Kathrin zum Guesthouse zurück. Aufgaben machen statt Elefanten-Safari….Ich laufe los. Mit vier anderen Touristen, Führer und Bewacher mit uralter Knarre. Sehen tun wir wenig: Drei Elefanten, eine Affenhorde, einen Bison, eine müde Ratte und Tigerspuren im Schlamm. Und alles aus 100 Metern Entfernung. Aber wenn man in afrikanischen Wildparks war, ist man halt ein wenig verwöhnt. Tim ist trotzdem untröstlich. Denn auch bei den beiden Night-Safaris - kurzen Jeep-Fahrten der Strasse entlang - kommen die Elefanten nicht aus dem Dschungel.


Am nächsten Tag versuchen wir es mit dem Nagarhole-Nationalpark, der 15 Kilometer entfernt liegt. Hier kann man mit Bussen auf Pirsch gehen, gefüllt mit wild durcheinander plappernden indischen Touristen. Sanjana, unsere Führerin, erzählt begeistert, was sie gestern alles erblickt hätten: Elefanten, Bisons - und am Schluss sogar einen Tiger. Doch wir haben wieder Pech. Ausser ein paar Pfauen und einem Rudel Rehe lässt sich nichts blicken. Tomas, der Chef des Guesthouses, tut alles, um es noch wahr zu machen, geht auf Pirsch, entdeckt Elefanten am Strassenrand, ruft seinen Sohn an. Wir rasen mit dem Jeep hin. Klar, als wir dort sind, sind sie weg. Die Bemerkung, er habe ja im Elephant Camp Elefanten gesehen, beruhigt Tim nicht. Das sei nicht das gleiche. Recht hat er. Wir werden wohl irgendwann nach Afrika fahren müssen. Bis dann müssen junge Ziegen reichen.

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