Sonntag, 17. Januar 2010

Götter auf Erden - und ein kleines Paradies


Die Männer stehen eng zusammen und schwitzen am ganzen Körper, obschon es erst fünf Uhr morgens ist. Mit kleinen weissen Stöcken aus Tamarindenholz schlagen sie auf die mit Ziegenhaut bespannten Cenda-Trommlen ein, als würde ihr Leben davon abhängen. Seit ein paar Minuten schon haben sie Rhythmus und Lautstärke ihrer Schläge zusehends gesteigert, bis die Ohren zu schmerzen beginnen. Dann ist es soweit: Der Gott ergreift Besitz vom Tänzer, der sich immer schneller im Kreis zu drehen und wild zu schreien beginnt, den Schild in der einen, Pfeil und Bogen in der anderen Hand. Die brennenden Kokosnüsse, die aus seinem Palmgrasrock hervorstehen, malen rote Schlieren in die Nacht, der riesige rote Kopfschmuck schwingt bedenklich hin und her.


Wir sind an einer Theyyam-Zeremonie in der Nähe von Kannur, einer Stadt an der Küste Nordkeralas. Hier hat sich ein archaisches Ritual erhalten, das ursprünglich aus den Bergen um Wayanad stammt, und dessen Ursprünge in vorhinduistische Zeiten zurück reichen. Begleitet von Trompetern und Trommlern, erzählen die Darsteller wilde Geschichten und uralte Mythen, bis sie im Verlaufe der stundenlangen Tänze in Trance geraten, von der Gottheit, die sie darstellen, in Besitz genommen und selbst zur Inkarnation der Gottheit werden. Danach sitzen sie erschöpft auf Stühlen, werden von der Bevölkerung angebetet und erteilen ihr den Segen.


Es gibt 452 Theyyam-Charaktere mit je einer eigenen Geschichte, erklärt uns Kurian, der Besitzer des Costa Malabari Homestays südlich von Kannur. Selbst Christ, ist er einer der besten Theyyam-Kenner der Region uns weiss stets, wo welches Ritual zu sehen ist. Wir gehen dreimal hin, obschon die Zeremonien meist um 4 Uhr morgens beginnen und man vor sechs Uhr dort sein muss, um den Höhepunkt nicht zu verpassen. In einem der Rituale treten vierzehn Götter gleichzeitig auf. Jeder hat einen sieben Meter hohen Kopfschmuck an, und in diesem Aufzug vollführen sie einen wilden Tanz auf Stelzen. Eine andere Zeremonie kulminiert in einem Lauf über glühende Kohlen. Und immer tragen die Tänzer kunstvolle Kostüme aus Stoff, Pappmaché und Glasspiegeln und sind von Kopf bis Fuss geschminkt oder mit Kokosmilch- oder Turmericpaste beschmiert.


Theyyam ist keine Show für Touristen, obschon diese, unabhängig von ihrer Religion,  willkommen sind und freundlich empfangen werden. Theyyam lebt, sagt Kurian, und sei heute populärer als je zuvor. Erstaunlich, wenn man die schnelle ökonomische Modernisierung Indiens in Betracht zieht, die andernorts oft mit einer Säkularisierung der Gesellschaft einherging. Nicht hier. Beim Theyyam mag das mit der sozialen Bedeutung des Rituals zusammen hängen. Denn die Truppen - Darsteller wie Trommler - bestehen ausschliesslich aus Dalits, also aus Kastenlosen, der untersten sozialen Schicht.


Während der Theyyam-Saison im Dezember und Januar werden ausgerechnet die Dalits zu Göttern, die auf die Erde hinuntersteigen und von allen verehrt werden, selbst von den Brahmanen der Priesterkaste. Zudem machen sich viele der Geschichten über die Arroganz der Brahmanen lustig und kritisieren teilweise in deftiger Form die Ungerechtigkeit des Kasten-Systems. Eine Umkehrung der realen sozialen Verhältnisse also, die einmal im Jahr während zwei Monaten erlaubt wird. Dies mag die Popularität des Rituals erklären, denn es dient den Brahmanen wie den Kastenlosen. Letztere als Ventil für die angestaute Wut über die in Kerala immer noch strikten Kastenregeln. Und Ersteren als Vehikel, mit dem sich diese Wut in kontrollierbare und ritualisierte Bahnen lenken lässt. 


Kannur ist ein Geheimtip. Nicht nur wegen des Theyyam. Denn südlich der Stadt reiht sich ein Traumstrand an den anderen. Und im Gegensatz zu Goa und dem Süden Keralas sind sie fast menschenleer. Einige Homestays, ein paar Strandhäuser. Das ist alles. Wir kommen zuerst im Costa Malabari unter, dann im Kannur Beach House, einem Homestay direkt am Strand. Dort leben Rosie und Nazir mit Sohn und Tochter  und bewirten ihre Gäste mit einer derartigen Herzlichkeit, dass wohl niemand, der hier ein paar Tage lebte, nicht länger bleiben möchte als geplant..


Das Essen ist feinste Kerala-Kost. Fisch- und Prawn-Curries, meist auf Kokos-Basis. Reichhaltige Gemüse-
auswahl an chüschtigen Saucen. Scharfe Pickles. Idli und Dosa zum Frühstück. Nur für Tim wird es nach ein paar Tagen schwierig, er sehnt sich nach Western Food - oder zumindest nach der nordindischen Küche, die ihm mehr behagte. Doch das Strandleben entschädigt für alles, und wir gewöhnen uns bald an eine Routine, mit der sich eine Woche bestens leben lässt.


Morgens zum kleinen Strand, einer von Kokospalmen beschatten Bucht. Tim surft in den Wellen. Wir lesen und machen Hausaufgaben. Mittagessen und Siesta. Um vier Uhr zum grossen Strand, einer weiten Sandsichel, die sich kilometerweit bis zu einem Fischerdorf hinzieht. Mehr als vier, fünf Menschen treffen wir kaum am Strand, und trotzdem hat es im Guesthouse interessante Gesprächspartner. Steve, einen anglikanischen Pfarreileiter aus Cape Cod, Arif, einen BBC-Dokumentarfilmer mit indischen Wurzeln, je mit Familie. Das Weiterreisen fällt schwer.


P.S. Ein weiterer Geheimtip: Wer Kannur noch so geniessen will, wie es heute ist, muss sich beeilen. Einige Homestays sind im Bau. Und in zwei Jahren soll es einen Flughafen mit Verbindungen an den Golf geben - und damit nach Europa. Dass die Strände hier schöner und sauberer sind als in Goa, wird sich danach bald herumsprechen.

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