Freitag, 8. Januar 2010

Fern von Weihnachten


Das System funktioniert einwandfrei und man kommt immer überall hin, wo man will. Irgendwie und irgendwann. Doch anstrengend ist das Reisen trotzdem. Zu Fuss an die Fähre. Warten. Mit dem Mafia-Boot über der Fluss. Zu Fuss an den Rikscha-Stand. Mit der Rikscha nach Hospet. Ticket kaufen und warten. Der Passenger Train nach Hubli fährt ein. Reservieren war nicht möglich, denn es gibt nur die dritte Klasse. Die wartenden Massen stürzen sich an die Türen, zwängen ein Gepäckstück durch die vergitterten Fenster, um sich einen Sitz zu ergattern. Wir schicken Tim vor, der sich durch die dichte Traube lärmender Leiber quetscht und sich in ein fast leeres Abteil legt. Doch leer bliebt es nicht lange und Tim verbringt vier unvergesslich enge Stunden, eingequetscht zwischen schwarz gewandeten muslimischen Matronen. 


Die Schleier fallen schnell und wandern in die Handtasche. Man kommt ins Gespräch, so gut es eben geht. Tauscht essen aus. Der Zug hält am kleinsten Bahnhof, die Abteile leeren und füllen sich im regelmässigen Rhythmus wie ein pulsierender Zell-Organismus. Leer bleibt ein Sitz nie. Schnell kommen wir nicht vorwärts. Bequem ist es nicht. Aber die Reise bleibt in Erinnerung: Mit Tim an der offenen Zugtüre stehen, sich festhalten an den blanken Eisenstangen. Die Landschaft langsam vorbeiziehen sehen. Reisfelder. Ein Ochsenkarren. Lange Reihen hupender Lastwagen. Frauen mit Wassertöpfen auf dem Kop. Büffelherden im hohen Gras. Unbezahlbar. Für alles andere gibt es bekanntlich Mastercard.



Wir erreichen Hubli. Wieder warten. Biryani essen. Der Nachtzug nach Mysore trifft pünktlich ein. Wir haben Schlafplätze im klimatisierten Viererabteil, ketten das Gepäck an und legen uns hin. Und neun Stunden später sind wir in Mysore. 600 Kilometer weiter südlich. Tim wird krank und legt sich ins Bett. Magenverstimmung. Ich beginne Mysore zu erforschen, die erste grössere Stadt, die wir besuchen, seit wir Bhopal verlassen haben. Und sogleich kehrt das Gefühl der Enge wieder zurück. Das Gefühl des überfallen und in die Ecke gedrängt werden. Das Gebrüll des Verkehrs. Das An-  und Abschwellen der Hupen, als würde ein Schwarm Zikaden im Strassengraben sitzen. Der Gestank der Benzindämpfe, die über den Strassen liegen. Der Fluchtimpuls kommt auf, das untrügliche Gefühl, von all dem schon zu viele gesehen zu haben.


Immerhin ist Mysore im Vergleich zu anderen Städten eigentlich ein ganz angenehmer Flecken. Es gibt Parks und charmant bröselnde Kolonialgebäude, die Strassen sind von weit ausladenden Bäumen gesäumt. Und es gibt den Devaraja-Markt im Zentrum der Stadt. Ein Fest für alle Sinne. Draussen vor den Markthallen stapeln sich die Bananen in den Himmel. Die kleinen aus Kerala, an der Staude noch und bloss zwei Daumen gross, aber zuckersüß. Daneben der Fleischmarkt, der einen zum Vegetarier machen könnte.


Jämmerliche, von Rivalen um den engen Platz im Käfig blutig gepickte Hühnchen werden im Akkord geschlachtet, indem man ihnen der Hals umdreht. Noch zuckend werden sie gerupft, falls sie überhaupt noch Federn haben. Die Abfälle verrotten in grossen Haufen, es stinkt nach Blut und Fäule, dass sich der Magen zu drehen beginnt. Daneben rösten Männer Ziegenköpfe in einem mit Kohle gefüllten Metallbecken. Und hinten werden die versengten Schädel in Stücke gehackt und verkauft. Findet sich die Blut triefende, fettige Masse heute Abend im Mutton Masala?


Bedeutend appetitlicher ist das Gemüse, das die Händler zu hohen Bergen geschichtet haben. Da liegen Auberginen neben Jojo, einer schrumpeligen grünen Knolle. Okra neben Blumenkohl. Roter Chilies haben sich zu den Gurken verirrt. Bohnen und Linsen gibt es in zahllosen Varianten. Dann Tomaten und Kokosnüsse, Zwiebeln und Knoblauch und Ingwer. Äpfel und Trauben. Bananenblätter, auf denen in manchen Restaurants das Essen serviert wird.


Das grösste Gedränge herrscht auf dem Blumenmarkt. Das grösste Geschrei auch. Und die besten Gerüche. Nach Jasmin und Ringelblumen und Rosen. Und nach Sandelholz, das die Parfümhändler den Touristen andrehen wollen. Die Blumen-Wallahs thronen in ihren Buden auf Podesten aus Holz, vor ihnen haben sie Haufen von Blüten aufgetürmt. Kinder und junge Männer stecken sie derart schnell auf Nadeln, dass der Blick ihren Bewegungen kaum zu folgen vermag. Daraus entstehen Gestecke und meterlange Girlanden, die auf dem Boden zu hohen Rollen gelegt werden, damit sie sich nicht verknoten können.  

Es ist bald Weihnachten, auch wenn man davon wenig merkt. Höchstens an kitschigen Glitter-Girlanden, den Plastik-Weihnachtsbäumen und den grossen Sternen aus Karton. Auch wir sind nicht in Stimmung. Zu weit weg ist die Athmosphäre von dem, was wir mit Weihnachten verbinden, von Kälte, Schnee und Dunkelheit. Feste und Feiern sind wohl weniger an ein Datum gebunden, sondern an Stimmungen und den Assoziationen, die sie erwecken, der Umgebung, in denen sie üblicherweise stattfinden.


Dass sich unser Hotel in der Kinomeile Mysores befindet, ist in dieser Beziehung auch nicht hilfreich. Jeder Quadratmeter ist vollgepflastert mit Plakaten der neusten Filme. Leicht geschürzte üppige Tänzerinnen konkurrieren mit bärtigen oder zumindest beschnauzten Helden um die Aufmerksamkeit. Die Plakate sind mit Blumengirlanden verziert, vor den Kinos versammeln sich schon mittags riesige Mengen jugendlicher Männer, die bis hinaus auf die Strassen quellen und den Verkehr auf die andere Strassenseite drängen. Es sind “local movies”, wie wir uns sagen lassen, Produkte der tamilischen Filmindustrie, billige Gangster- und Abenteuer-Stories meist. Erfolgreich scheinen sie trotzdem zu sein.


Den 24. Dezember verbringen wir im Maharaja-Palast, einem Zuckerbäcker-Schloss im Zentrum der Stadt, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem britischen Architekten gebaut wurde, nachdem der alte Holzpalast niedergebrannt war. Und am Abend, so dachten wir, wollen wir uns etwas Besonderes leiten: das Weihnachts-Buffet im Lalitha Mahal Palace, einem Palasthotel am anderen Ende der Stadt. Der Esssaal ist beeindruckend, die Lobby ebenfalls. Eine breite Freitreppe führt in den oberen Stock, auf der Zwischenetage steht ein ausgestopfter Tiger und eine ebenso verstaubter Löwe in Glasvitrinen. Jagdtrophäen des früheren Besitzers. Stolz zeigen uns zwei Angestellte die Maharajah-Suite. Vier Räume mit altmodischem Mobiliar. Ein verrosteter uralter Hometrainer im Badezimmer. Verrissene, fleckige Teppiche. Für 800 Dollar pro Nacht. Indischer Stil halt, abgewohnt und schmuddlig, auch im Luxusbereich.


Wir befürchten das Schlimmste für das Weihnachts-Buffet. Und tatsächlich erhalten wir den bei weitem teuerste und eines der schlechtesten Essen, die wir in Indien vorgesetzt bekamen. Pampige Curries, verkochte Spaghetti, fade Vorspeisen, klebrige Dessert. In jedem billigen Thali-Restaurant hätten wir besser gegessen. Dafür kommt ein Samichlaus vorbei und verteilt kleine Geschenke. Und vorn auf der Bühne klimpert ein gelangweilter Pianist auf dem E-Piano Weihnachtsweisen. Oder was er glaubt, das könnte das sein.. Wenn sein Handy läutet, plappert er minutenlang lautstark. Inzwischen lässt er eine Rumba-Rhythmus in Endlosschleife laufen. Unterhaltung im indischen Fünf-Sterne-Hotel.

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