Das System funktioniert einwandfrei und man kommt immer überall hin, wo man will. Irgendwie und irgendwann. Doch anstrengend ist das Reisen trotzdem. Zu Fuss an die Fähre. Warten. Mit dem Mafia-Boot über der Fluss. Zu Fuss an den Rikscha-Stand. Mit der Rikscha nach Hospet. Ticket kaufen und warten. Der Passenger Train nach Hubli fährt ein. Reservieren war nicht möglich, denn es gibt nur die dritte Klasse. Die wartenden Massen stürzen sich an die Türen, zwängen ein Gepäckstück durch die vergitterten Fenster, um sich einen Sitz zu ergattern. Wir schicken Tim vor, der sich durch die dichte Traube lärmender Leiber quetscht und sich in ein fast leeres Abteil legt. Doch leer bliebt es nicht lange und Tim verbringt vier unvergesslich enge Stunden, eingequetscht zwischen schwarz gewandeten muslimischen Matronen.
Die Schleier fallen schnell und wandern in die Handtasche. Man kommt ins Gespräch, so gut es eben geht. Tauscht essen aus. Der Zug hält am kleinsten Bahnhof, die Abteile leeren und füllen sich im regelmässigen Rhythmus wie ein pulsierender Zell-Organismus. Leer bleibt ein Sitz nie. Schnell kommen wir nicht vorwärts. Bequem ist es nicht. Aber die Reise bleibt in Erinnerung: Mit Tim an der offenen Zugtüre stehen, sich festhalten an den blanken Eisenstangen. Die Landschaft langsam vorbeiziehen sehen. Reisfelder. Ein Ochsenkarren. Lange Reihen hupender Lastwagen. Frauen mit Wassertöpfen auf dem Kop. Büffelherden im hohen Gras. Unbezahlbar. Für alles andere gibt es bekanntlich Mastercard.
Jämmerliche, von Rivalen um den engen Platz im Käfig blutig gepickte Hühnchen werden im Akkord geschlachtet, indem man ihnen der Hals umdreht. Noch zuckend werden sie gerupft, falls sie überhaupt noch Federn haben. Die Abfälle verrotten in grossen Haufen, es stinkt nach Blut und Fäule, dass sich der Magen zu drehen beginnt. Daneben rösten Männer Ziegenköpfe in einem mit Kohle gefüllten Metallbecken. Und hinten werden die versengten Schädel in Stücke gehackt und verkauft. Findet sich die Blut triefende, fettige Masse heute Abend im Mutton Masala?
Bedeutend appetitlicher ist das Gemüse, das die Händler zu hohen Bergen geschichtet haben. Da liegen Auberginen neben Jojo, einer schrumpeligen grünen Knolle. Okra neben Blumenkohl. Roter Chilies haben sich zu den Gurken verirrt. Bohnen und Linsen gibt es in zahllosen Varianten. Dann Tomaten und Kokosnüsse, Zwiebeln und Knoblauch und Ingwer. Äpfel und Trauben. Bananenblätter, auf denen in manchen Restaurants das Essen serviert wird.
Es ist bald Weihnachten, auch wenn man davon wenig merkt. Höchstens an kitschigen Glitter-Girlanden, den Plastik-Weihnachtsbäumen und den grossen Sternen aus Karton. Auch wir sind nicht in Stimmung. Zu weit weg ist die Athmosphäre von dem, was wir mit Weihnachten verbinden, von Kälte, Schnee und Dunkelheit. Feste und Feiern sind wohl weniger an ein Datum gebunden, sondern an Stimmungen und den Assoziationen, die sie erwecken, der Umgebung, in denen sie üblicherweise stattfinden.
Den 24. Dezember verbringen wir im Maharaja-Palast, einem Zuckerbäcker-Schloss im Zentrum der Stadt, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einem britischen Architekten gebaut wurde, nachdem der alte Holzpalast niedergebrannt war. Und am Abend, so dachten wir, wollen wir uns etwas Besonderes leiten: das Weihnachts-Buffet im Lalitha Mahal Palace, einem Palasthotel am anderen Ende der Stadt. Der Esssaal ist beeindruckend, die Lobby ebenfalls. Eine breite Freitreppe führt in den oberen Stock, auf der Zwischenetage steht ein ausgestopfter Tiger und eine ebenso verstaubter Löwe in Glasvitrinen. Jagdtrophäen des früheren Besitzers. Stolz zeigen uns zwei Angestellte die Maharajah-Suite. Vier Räume mit altmodischem Mobiliar. Ein verrosteter uralter Hometrainer im Badezimmer. Verrissene, fleckige Teppiche. Für 800 Dollar pro Nacht. Indischer Stil halt, abgewohnt und schmuddlig, auch im Luxusbereich.
Wir befürchten das Schlimmste für das Weihnachts-Buffet. Und tatsächlich erhalten wir den bei weitem teuerste und eines der schlechtesten Essen, die wir in Indien vorgesetzt bekamen. Pampige Curries, verkochte Spaghetti, fade Vorspeisen, klebrige Dessert. In jedem billigen Thali-Restaurant hätten wir besser gegessen. Dafür kommt ein Samichlaus vorbei und verteilt kleine Geschenke. Und vorn auf der Bühne klimpert ein gelangweilter Pianist auf dem E-Piano Weihnachtsweisen. Oder was er glaubt, das könnte das sein.. Wenn sein Handy läutet, plappert er minutenlang lautstark. Inzwischen lässt er eine Rumba-Rhythmus in Endlosschleife laufen. Unterhaltung im indischen Fünf-Sterne-Hotel.
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