Freitag, 30. Oktober 2009

Himalaya-Flug


Die Tage verstreichen. Warten. Auf den Flug von Pokhara nach Kathmandu. Auf Taxis. Auf die Rückkehr der Elektrizität, die in Kathmandu jeden Tag für drei Stunden abgeschaltet wird, nach einem Plan, der anfang Monat verteilt wird. Manchmal fünf bis acht, manchmal sechs bis neun, manchmal sieben bis zehn. Dann röhren die Generatoren. Warten auf den Flug nach China. Auf dass es Zeit wird zum essen. Das gehört auch zum reisen: Zeit für Langeweile. Packen die Bergschuhe und die warmen Kleider in grosse Säcke und geben sie Kami, der sie für uns in die Schweiz spedieren wird. Und überweisen dann das Geld auf sein Konto bei der Raiffeisen-Bank in der Schweiz. Für alle Schweizer Kunden, sagt er. Ob es ein Doppelbesteuerungs-Abkommen gibt zwischen der Schweiz und Nepal? Hat wohl derzeit geringe Priorität. Wir schlagen uns den letzten Tag in Nepal mit einem weiteren Bummel durch die Marktgassen um die Ohren, liegen im Hotel-Garten. Abendessen nochmals im Everest Steak House. Das grosse Chateaubriand. Gut 30 Zentimeter lang, gut garniert. Das Rindfleisch kommt aus Kalkutta. So was wird es in China nicht mehr geben, wo alles klein gehackt wird, auf dass es zwischen die Stäbchen passe. Glück gehabt. Wir ergattern eine Reihe links im Flugzeug. Tim klebt am Fenster, ich daneben. Nach 15 Minuten kommt er in Sicht. Everest. Ein magischer Name. Eine schwarze Pyramide, messerscharfe Grate. Heute weht nicht einmal der Jetstream über den Gipfel. Der Himmel ist blau wie Kobalt. Glasklar. Weit hinunterblicken muss man nicht aus 10’000 Metern Reisehöhe, und da stehen sie alle, wie ein lange Reihe Wächter vor dem Tor zum Himmel: Cho Oyu, Lhotse, Nuptse, Makalu, Ama Dablam. Schwarze Wände, weisse Spitzen, glitzerndes Eis. Dazwischen die tiefen Täler des Solo Khumbu. Tim blickt fasziniert nach unten, irgendwann werden auch wir dort unsere Spuren ziehen. Als wollte er uns den Speck durch den Mund ziehen, dreht der Pilot einen grossen Bogen um das Everest-Massiv, den Flügel nach links gekippt. Panorama-Blick für lange Minuten, die Nordseite mit dem ewig langen Gletscher, auf dem Mallory schon 1924 entlang zog, bevor er aufstieg und verschwand. Ob er vorher oben war, wird man nie wissen, 30 Jahre vor Hillary und Tenzing. Daneben die Schwärze der Lhotse-Nordwand. 4000 Meter vertikaler Fels. So wild, dass man nicht einmal davon spricht, ihn zu durchsteigen.


Das Land wird braun und öd. Wir landen in Lhasa, weit außerhalb der Stadt. Also kein Blick auf den Potala-Palast. Chinesischer Zoll. Effizient und ruppig. Allen wird das Fieber gemessen, bei mehr als 39 Grad droht Schweinegrippe-Quarantäne. Die Zöllner interessieren sich sehr für das grosse Glas Nutella, die lange Wurst vom Metzger in Uettligen kommt ungehindert durch. Notfall-Ration für die kulinarischen Krisenzeiten, auf die wir uns einstellen. Wir steigen um in Chengdu, ein Riesenflughafen, vor 20 Jahren noch nicht mehr als ein Schuppen. Ankunft in Guiyang, der Hauptstadt der Provinz Guizhou. Das heisst “kostbare Sonne”, weil diese hier nur selten scheint. Als wir ankommen, nieselt es.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Im Ghetto


Es ist, als liefen alle Musikgeräte in Endlosschlaufe, und nur mit einer einzigen CD: Om mani padme hum plärrt aus jedem zweiten Laden, ein Bookshop reiht sich an ein Restaurant und dieses an einen Laden mit Trekking-Ausrüstung und dieser an eine German Bakery. Lakeside Pokhara ist ein einziges Touristenghetto, alles ist auf den Bedarf der Besucher ausgerichtet - und diese sind in Massen da. Es geht auf Mitte Oktober zu, und die Haupt-Trekking-Saison in Nepal hat endgültig begonnen. Der Überfluss des Angebots hat zwar auch seine angenehmen Seiten: Wir können neue Bücher einkaufen und all die langen, bereits gelesenen Romane, von denen wir glaubten, sie würden Tim bis nach Hongkong beschäftigen, gegen neue eintauschen. Wir essen gut und abwechslungsreich und versuchen, die laute Musik in den Pubs und Bistros zu ignorieren, gleich wie den Umstand, dass man nur weisse Köpfe sieht und das Leben hier eigentlich nichts mit Nepal zu tun hat. Diese Szenerie könnte man genauso gut auf Ibiza oder an der Khao San Road in Bangkok antreffen, mit dem einzigen Unterscheid, dass hier der Sex-Tourismus fehlt.


Gut, wir sind Teil dieser Welt des globalen Reisens, befördern es mit unserer Anwesenheit und haben deshalb kein Recht, uns allzu stark über dessen Auswüchse auszulassen. Aber das Leben im Touristen-ghetto nervt und wir freuen uns auf die Zeit in China, wo wir näher an den Menschen zu sein hoffen. Immerhin geniessen wir das Privileg, in der Fishtail Lodge zu wohnen, einer Oase der Ruhe auf der anderen Seeseite mit Bilderbuch-Aussicht auf die gesamte Annapurna-Kette direkt aus der Hängematte - und einem Swimming Pool, in dem sich Tim vergnügt, während Kathrin und ich die Tage verdösen. Wir mieten Velos, fahren am See entlang, rudern im Boot hinaus auf den Fewa Lake, ruhen uns aus, lesen, schlafen - das wär’s. Nur am morgen früh wird jeweils hektisch, wenn der Video-Club Wuppertal lärmend an unserem Zimmer vorbeizieht, um vorne am Seeufer rechtzeitig vor Sonnenaufgang die Stative in den Boden zu rammen.


Nepal hinterlässt bei meinem zweiten Besuch einen zwiespältigen Eindruck. Die dramatsich auseinander klaffenden Welten der nepalischen Realität und der Welt des Massentourismus, die sich höchstens an den Rändern berühren. Die Erfahrung der bitteren Armut, die derart stark kontrastiert zu unserem Luxus, dass sie uns immer wieder fragen lässt, was wir eigentlich hier zu tun haben. Die umstrittene Modernisierung des Landes, der Bau von Infrastruktur, die bitter nötig ist, aber gleichzeitig just den einzigartigen Charme des Landes zerstört, der sich aus Ruhe, Langsamkeit und Urtümlichkeit spies. Als Maurice Herzog 1950 mit dem Annapurna den ersten  8000er bezwang, gab es erst eine Strasse im ganzen Land, von Indien in Richtung Kathmandu, ohne die Hauptstadt zu erreichen. Wie es wohl damals hier aussah, vor nicht einmal 60 Jahren? Aber sind diese romantizistischen Gedanken überhaupt zulässig aus unserer abgehobenen westlichen Optik?


Trotz allen Widersprüchen: Dass wir als Familie den Einstieg in usnsere Reise und das 13-tägige Trekking derart gut geschafft haben, erfüllt uns mit Stolz. Es war toll, berauschend zuweilen, manchmal hart und anstrengend. Wir haben uns als Familie durchgeschlagen und viel zusammen erlebt. Selbst Kathrin, sonst von Bergen nicht wirklich zu begeistern, war beeindruckt von den urtümlichen, Ehrfurcht gebietenden Eisreisen - und Tim ist seinem Ruf als Bergfan mehr als gerecht geworden. Nun will er den Everest sehen, hat er mir anvertraut. Ich habe ein Karte der Region gekauft. Auch ich werde zurückkehren, das ist sicher. Aber wohl eher in eine Gegend, in der man zelten muss, wo es weniger Leute hat, wo man auch noch näher ins Hochgebirge kommt. In vier, fünf Jahren vielleicht, dann wird Tim so weit sein, dass man mit ihm in Regionen über 5000 Meter vorstossen kann. Und vielleicht lässt sich auch Kathrin dann nochmals zu einem grossen Berg-Abenteuer überreden.

Montag, 12. Oktober 2009


Manish hat angerufen, und unsere Flüge sind schon wieder anders als geplant. Wir müssen einen Tag früher nach Pokhara, damit wir den ersten Flug nach Jomsom erwischen. An sich keine schlechte Idee, so ersparen wir uns eine Nacht im hektischen Kathmandu. Wir haben das permanente Hupkonzert langsam satt und freuen uns auf die Berge, auf Ruhe, auf klare Luft. Also früh morgens nach Kathmandu, umpacken und an den Airport. In Pokhara ist es brütend heiss, zum Glück hat unser Hotel einen Swimming Pool, in dem sich Tim den ganzen Nachmittag vergnügt, während wir vor uns hindösen. Letzte Einkäufe, eine Goretex-Jacke für Tim, drei Paar Wanderstöcke, und wir sind bereit für den Himalaya.


1. Tag: Mit Rückenwind nach Kagbeni


Ohne Flugchaos ist eine Nepalreise kein Nepal-Reise. Unsere Maschine hätte um 6.30 Uhr abfliegen sollen, doch es gibt diverse “technische Schwierigkeiten”, und “bald” soll es soweit sein. Es wird 11 Uhr, bis wir abheben, die Berge haben sich inzwischen in dichte Wolken gehüllt, aber wir sind froh, dass wir es überhaupt schaffen. Denn Mitte Vormittag kommt im Gandaki-Tal täglich ein mittlerer Orkan auf, angetrieben von den Druckunterschieden zwischen dem unteren und dem oberen Mustang. In Jomsom erwarten uns Krishna und Nima Sherpa, unsere Begleiter für die nächsten 12 Tage. Krishna hat vor zwei Tagen geheiratet, lässt er uns bald wissen, was könnte es schöneres geben, als die Flitterwochen mit uns zu verbringen… Nima ist 22 , das erste mal in der Gegend, und er buckelt die 27 Kilo in unserem Duffel-Bag mit einem Lachen, das in den nächsten 12 Tagen nie abreissen wird.


Wir sind im Trans-Himalaya, hinter dem himmelhohen Bergwall, der den Monsun von diesem Landstrich fernhält. Die Gegend ist trocken wie Sand und schimmert von Braun über Beige zu Grau und Schwarz, einzig die Gerstenfelder setzen grüne Akzente. Am Horizont leuchten wie Kristalle die Bergspitzen - eine Mondlandschaft mit Sahneguss, die eine einzigartige mystische Athmosphäre ausstrahlt. Wir lassen uns vom Wind die Strasse nach Kagbeni hochtreiben, über die staubige Ebene, durch die der Gandaki seine Mäander zieht. Der Blick von der Red House Lodge lässt verstehen, weshalb man sich hier den Göttern eine Spur näher fühlt: Gegen Norden das “verbotene Königreich” Mustang, auch heute noch nur gegen eine Gebühr von 500$ zu besuchen, im Süden prahlt die Nilgiri-Nordwand, die sich so verwegen auf über 7000 Meter aufschwingt, dass sie noch nie durchstiegen wurde - eine Masse von Fels und Schnee und Eis, so wuchtig, dass man nur in Ehrfurcht hinaufblicken und beim Gedanken erbleichen kann, man müsste dort hinauf. Kagbeni ist ein tibetisches Dorf, ein Labyrinth aus farbig gestreiften Steinhäusern mit Flachdächern, auf denen Gebetfahnen die Mantras in den Himmel tragen. Das Dorf ist bitterarm, der Tourismus scheint kaum Entwicklung gebracht zu haben, und ob es die Strasse richten wird, die seit zwei Jahren durchgehend von Beni bis Muktinath befahrbar ist, bleibt offen. Auf einem Felsvorsprung steht ein Kloster, Tim dreht beim Besuch jede einzelne Gebetsmühle. Das bringt gutes Karma, und das wird er nötig haben in den nächsten Tagen.



2. Tag: Hinauf nach Jharkot

Wir steigen den staubigen Weg hinauf, der immer wieder von der Strasse geschnitten wird. Die Jeeps sind gefüllt mit Pilgern, die nach Mutktinath wollen, eine den Hindus heilige Statte zuoberst im Tal. Und sie hupen unerbittlich, auch wenn man noch so weit ausweicht, um den Staubfahnen auszuweichen, die sie hinter sich herziehen. Die Strasse: Sie nervt die Trekker, denn sie hat den ehemaligen Fusspfad gefressen und wüste Wunden in die urtümliche Landschaft geschlagen. Zuweilen gibt es Möglichkeiten, auf alternative Rouen auszuweichen, aber eben nur zuweilen, und die meiste Zeit läuft man auf einer staubigen, mit Steinen übersäten Strasse - nicht gerade was man sich wünscht. Die Strasse nervt auch die Lodgebesitzer, denn es hat etwa 30 Prozent weniger Trekker als zuvor, wie uns Patrick, der holländische Besitzer der High Plains Lodge in Tukuche, später erzählen wird. Doch sie freut die Pilger, die zuhauf in Jeeps in Muktinaths Shiva-Tempel strömen, und sie freut die Apfel- und Aprikosenfarmer im mittleren Talabschnitt, die ihre Produkte billiger und viel schneller auf den Markt bringen können. Wahrscheinlich überwiegen für die Bevölkerung die Vorteile, und das ist das Wichtigste, auch wenn man als Besucher etwas wehmütig sich vorzustellen versucht, wie diese grandiose Landschaft wohl ohne Motoren gewirkt haben mag.


Trotzdem: Der Blick vom Plaza Hotel in Jharkot stimmt versöhnlich, und weit oben lockt der Thorong La, mit 5416 Metern einer der höchsten Pässe der Welt. Für uns bleibt er unerreichbar, denn schon in Jharkot, “bloss” 3700 Meter hoch gelegen, ist die Luft dünn geworden. Tim hält sich wacker, doch die Höhe macht ihm zu schaffen, und auch Kathrin und ich fühlen uns schwindlig. Zudem hat Tim Mühe mit dem essen, nichts schmeckt wie zuhause, selbst die Pizza kommt ihm schräg vor - sie ist es auch - er hat keinen Appetit, nörgelt an allem herum, ist abgekämpft. Wir beschliessen, einen Ruhetag einzuschalten und fallen erschöpft ins harte Bett.


3. Tag: Höhenkrank

Tim geht es besser, glauben wir zuerst, doch essen will er immer noch nichts. Und plötzlich, ohne Vorwarnung, erbricht er sich in hohem Bogen über den Frühstückstisch. Er schlottert, ist kreidebleich, der Fall ist klar: Höhenkrankheit, wir sind wohl schlicht zu schnell aufgestiegen. Tim kann etwas schlafen, ich steige derweil mit Krishna zum Tempel von Muktinath hoch, der aber ausser göttlicher Aussicht auf Nilgiri, Daulaghiri und Tukuche wenig bietet. Und plötzlich, wenn man in Not ist, sieht man alles anders: Die Strasse sei gelobt, wir nehmen einen Jeep, um Tim so schnell wie möglich in die Tiefe zu bringen. Mit jedem Meter, den wir tiefer rumpeln, kehrt etwas mehr Farbe in sein Gesicht zurück, und in Jomsom, wo wir in den Bus umsteigen, hüpft er bereits wieder vergnügt über Stock und Stein. Ob er es zu Fuss geschafft hätte? Irgendwie hätten wir ihn wohl schon hinunter getragen, aber die Strasse erlaubt bei Bedarf den Notabstieg, und deshalb haben wir es ja überhaupt gewagt, mit Tim derart schnell in derart grosse Höhen vorzustossen.



4. Tag: Tims Karma

Marpha ist voller Apfelbäume. Wir steigen zum Kloster hinauf, geniessen den Blick auf Obstgärten und blütenweisse Gipfel, Tim dreht wieder eine Gebetsmühlenrunde. Wir wandern auf der Strasse und wollen den ersten Bus anhalten, der vorbei kommt. Es kommt lange keiner, und den einzigen, der vorüberrasselt, verpassen wir, weil wir auf einer Hängebrücke Schnappschüsse üben. In Tukuche warten wir auf den nächsten Bus, ein “Cappuccino”-Schild lockt mich in die High Plains Lodge. Man spürt sofort, dass hier etwas anders ist: Um die Feuerstelle sind Bänke mit gemütlichen Kissen angeordnet, in den Fenstern sehen die Pflanzen in Ton- statt Plastiktöpfen. Die Lodge wird von Patrick geführt, einem Holländer, der seit 12 Jahren in Nepal lebt und mit einer Nepali verheiratet ist. Wir bleiben, die Zimmer sind nett und wohnlich, das Essen lecker. Wieso eigentlich, fragt man sich einmal mehr, müssen es immer die Europäer sein, die auf die Idee kommen, ein simples Tischchen und eine Leselampe ins Zimmer zu stellen, ein Bild an die Wand zu hängen und ein Stück Seife ins Badezimmer zu legen? Kosten tut dies wenig, bewirken tut es viel. Andere Mentalität? Die Komplexität “interkultureller Kommunikation“?  Oder ist es politisch inkorrekt zu fragen, weshalb die Nepalis das nicht auf die Reihe kriegen, trotzt all ihrer Freundlichkeit und Herzlichkeit und ihrem echten Bedürfnis, dem Fremden nur das Beste zu bieten?


Wie auch immer: Uns gefällt’s in Tukuche, wir sitzen draußen, Tim spielt auf der Strasse Volleyball mit den Kindern. Plötzlich knallt es, ein Passagier auf dem Dach eines rasenden Busses ist mit seinem Rucksack in voller Fahrt gegen den blechernen Torbogen am Dorfeingang geknallt. Wenn das sein Kopf gewesen wäre….. Patrick reagiert sofort, steigt auf eine Leiter und reisst das Blech, das auf zwei Steinsäulen ruht, herunter. Holzbretter fliegen zu Boden, Tim sitzt auf einem Schutthaufen und schaut zu. Und tritt mitten in einen rostigen Nagel, der aus einem der Bretter ragt. Tim schreit, ich ziehe ihm den Schuh samt Nagel aus, die Haut ist nur leicht geritzt. Ist es das Karma, das er sich mit Gebetsmühlen drehen und Butterlämpchen verdient hat? Die dicke Gummisohle seiner Schuhe war auf den Millimeter genau so dick wie der Nagel, der sich in diese hineinbohrte. Und gleich daneben ragte ein zehn Zentimeter langes Ungetüm aus dem Holz. Ein geringfügig längerer Schritt, und Tim läge jetzt in Kathmandu im Spital.


5. Tag: Höllenfahrt am Abgrund


Tukuche war einst ein reiches Dorf, das vom Handel mit Tibet lebte. Heute sind die kleinen Warenhäuser zerfallen, und wie überall im oberen Kandaki-Tal scheint die Stimmung gedrückt. Die Lodges und Restaurants stehen meist leer, in den ärmlichen Häusern sieht man fast nur ältere Frauen und Kinder, die Männer arbeiten in der Stadt oder im Ausland. Ob sich diese uralte buddhistische Kultur noch lange halten kann, jetzt, wo die Strasse weitere Gefahren kultureller Verflachung bringen wird?

Wir marschieren los, Tim geht es wieder blendend, und Krishna findet zielsicher jede Möglichkeit, von der Strasse auf einen Fusspfad auszuweichen. Krishna und Niwa sind ein Glücksfall, zuvorkommend gehen sie auf all unsere Wünsche ein, sind weder Plapperer noch Machos, und Krishna, der als einziger englisch - und sehr gut französisch - spricht, ist ein interessanter und besonnener Gesprächspartner. Tim haben sie ins Herz geschlossen und kümmern sich rührend um ihn, spielen mit ihm Fussball und bringen ihm nepalesische Kartentricks bei.


Der Weg führt durchs breite, mit Schotter und Sand gefüllte Flussbett, links die drei Gipfel des Nilgiri, rechts die immense Pyramide des Daulaghiri. Dies ist das tiefste Tal der Welt, vom 8193 Meter hohen Daulaghiri geht es 6000 Meter hinunter auf den Talgrund, nur um gegenüber zum Nilgiri und gleich dahinter zum 8034 Meter hohen Annapurna aufzusteigen - und dies alles innerhalb von 20 Kilometern Luftlinie. Als wir wieder auf die Strasse treffen, beschliessen wir, einen Bus zu stoppen und ein Stück zu fahren. Das war ein Fehler. Die Strasse führt in den oberen Teil der Gandaki-Schlucht, der voll gepferchte Bus rumpelt über Felsen und Schlaglöcher, wackelt hin und her, schlittert und prustet. Unten schäumt der Gandaki, neben der Strasse fällt der Abgrund hundert und mehr Meter in die Tiefe, Abschrankungen gibt es natürlich keine. Wir schlittern mehrmals haarscharf am Abgrund vorbei, Kathrin ist kreidebleich, ich sitze auf einem Reissack am Boden und sehe zum Glück nichts, Tim steht an der Türe und blickt hinunter: “Oops, zehn Zentimeter, das war knapp, Papa”. Wir steigen entnervt aus, suchen uns in Ghasa eine Lodge und geloben, lieber der Staub zu fressen als nochmals in den Bus zu steigen. Denn weiter unten gibt es laut Krishna noch ein paar schlimmere Stellen. Und wir wollen nicht alles Karma auf einmal aufzehren, denn vielleicht brauchen wir später noch davon, wer weiss.



6. Tag: Ruhe vor dem Aufstieg

Ghasa ist eine kulturelle Wasserscheide. Oben im Gandaki-Tal dominiert der tibetanische Buddhismus, am höchsten Punkt der Dörfer stehen rot gestrichene Klöster, am Wegesrand finden sich immer wieder Chörten, die kleinen Schreine, die zu einer weissen Stupa auslaufen. Unterhalb von Ghasa gibt es immer mehr Hindus, und wo sich die Flüsse treffen, stehen kleine Tempel. Auch die Vegetation hat sich geändert, in Mustang steht kein einziger ein Baum, hier unten sind die steilen Hänge grün überwuchert, die Pinien machen Raum für subtropischen Wald, in dem man sein eigenes Wort ob all dem Zikadengezirp nicht mehr versteht. Das macht auch die Faszination diese Trecks aus, trotz der verfluchten Strasse: Wohl nirgends in Nepal kann man in derart kurzer Zeit durch derart verschiedene Kulturen und Landschaften wandern. Wir nehmen’s heute gemütlich und sind schon in vier Stunden in Tatopani. Doch auch das Wetter hat geändert: Oben strahlend blau, hier unten bedeckt und mit einzelnen Nieselregenschauern. Die Sicht ist mässig, dafür entschädigen wir uns mit einem Bad in den Hot Springs am Fluss.


Langsam spüren wir die Müdigkeit in den Beinen, Tim hustet und hat Läuse, ich bin seit Tagen erkältet, nur Kathrin geht’s bestens - wohl dank den diversen Geheimpillen, die sie morgens und abends zu sich nimmt - (Doris sei dank). Wir haben so viel Zeit zum lesen und schreiben wie schon lange nicht mehr, fantastisch! Tim liest so schnell wie eine Kopiermaschine, nach knapp zwei Wochen hat er drei Bücher erledigt und ist tief im nächsten Harry Potter, dem letzten, der uns bis Hongkong bleibt. Wir können nur hoffen, in Pokhara oder Kathmandu irgendwelchen Lesestoff für ihn zu finden.



7. Tag: Nichts als Schweiss

Der Himmel ist Wolken verhangen, die Luft ist voller Feuchtigkeit, als wir den Aufstieg nach Ghorepani in Angriff nehmen. 7 Stunden, 1200 Höhenmeter, mindestens zwei Liter Schweiss verloren, bis wir die Übung in Chitre abbrechen. Die steinernen Treppenstufen lassen die Beinmuskeln schmerzen, immerhin gibt es hier keine Strasse mehr, statt Jeeps wird man von Maultierkarawanen gekreuzt, welche alle Güter in die Höhe schleppen. Die Sicht wäre von hier oben wäre erstklassig, leider liegen seit dem Vollmond vor zwei Tagen die Wolken tief unten, so dass man nur die gegenüber liegenden Hügel sieht. Wir treffen alte Bekannte wieder, die den gleichen Weg gehen: Marina, Russin, seit 12 Jahren bei der European Bank for Development und Reconstruction in London, Sascha, Informatiker aus Weissrussland, Sebastian, Hedge Fund Banker aus Lausanne und Mabel, Chemikerin aus Kuba, wohnhaft in Lausanne.

Für spannenden Gesprächsstoff ist gesorgt, während Dan, Romantiker aus Kalifornien und so hoffnungslos alternativ, dass man es fast als naiv bezeichnen möchte, seiner Gitarre und seiner Kehle Western-Schnulzen entlockt, die Nepali-Strickmütze über beide Ohren gezogen. Er hat vier Monate in Afrika hinter sich und zeigt uns stolz sein Skizzenbuch. “Definitely Dutch” steht unter einer Skizze eines rothaarigen Pickelgesichts, das ihm in einem Café in Addis Abeba über den Weg gelaufen ist. Weshalb Dutch? “Die sind doch einfach so”, mein Dan. Man sieht: Auch Gutmenschen sind nicht gegen Vorurteilen gefeit. Nur Marten, selber Dutch, ist nicht amused. Die beiden sitzen, zum Glück, am entgegen gesetzten Ende des Tisches.


8. Tag: Immer höher

Tim klettert problemlos über Stock und Stein, und auch Kathrin machen die steilen Steinstufen kaum zu schaffen, so dass wir 500 weitere Höhenmeter mit links erledigen. Krishna kümmert sich bestens um Tim, muntert ihn auf und kocht uns in den Restaurants am Wegrand köstliche Nudelsuppen mit Ei und Knoblauch, wahre Energiebomben. Seine Stimmung ist indessen gedrückt, er hat Knatsch mit seiner frisch vermählten Gattin, die er jeden Morgen anruft, sofern man Verbindung hat. Krishna war unvorsichtig und hat sein zweites Handy zuhause gelassen, und nun rufen dort diverse Frauen an. “Nothing serious”, sagt Krishna mit verschmitztem Lachen, aber seiner Gemahlin passt es offensichtlich überhaupt nicht in den Kram. Kulturelle Unterschiede hin oder her: Die grundlegenden, die kleine Welt jedes einzelnen bewegenden Fragen bleiben, doch überall dieselben. Fühlen wir uns deshalb zuweilen fremden Menschen oft so schnell verbunden? Einfach weil wir spüren, dass die Basis der “condition humane” überall identisch ist?

Wir checken am Mittag in der Hill Top Lodge ein, doch die Lage bringt nichts: Aus dem Nieselregen wird ein Wolkenbruch, Wind kommt auf, Nebel zieht so dicht über die Hügel, dass man in einen Wattebausch zu blicken scheint, wenn man aus dem Fenster guckt. Wir beginnen zu warten, wir beginnen zu jassen, lassen und mit einem Buch immer tiefer in die Stühle fallen, im Wissen, dass jedes Wetter irgendwann eine Ende hat.


9. und 10. Tag: Who’ll stop the rain?


Zu sagen, es gieße wie aus Kübeln, wäre untertrieben. Vor den beschlagenen Fenstern der Lodge hängt ein dunkelgrauer Vorhang, der Wind peitscht das Wasser quer übers Land. So wird es die nächsten 48 Stunden bleiben, ohne jeden Unterbruch, nur die Stärke der Böen und die Menge der wie aus weit offenen Schleusen strömenden Wassermassen ist kleinen Schwankungen unterworfen. Bewegt sie sich auf der Skala nach unten, kommt gleich Hoffnung auf, die aber nie lange anhält. Und dass uns Krishna erzählt, dies sei erst das zweite Mal, dass er im Oktober derartigen Mosun erlebe, hebt unsere Stimmung nicht wesentlich. Immerhin sind wir im Trockenen, wir haben ein warmes Bett, zu essen und trinken, vor dem Haus steht genügend Holz für das Feuer, und wir sind in angenehmer Gesellschaft. Wir jassen immer weiter, unterbrochen nur von gelegentlicher Aufnahme von Nahrung. Öffnet sich ein Fenster mit nachlassendem Regen, steigen wir ins Dorf ab, wo es Internet (mit unglaublich langsamer Verbindung - like old days) und Billardtische gibt. Offenbar liegt ein Sturmtief direkt über West-Nepal, das kann also dauern. Immer mehr Trekker suchen Zuflucht in der Lodge, schlotternd und bis auf die Knochen durchnässt - trotz wer weiss wie vieler Goretex-Lagen. Nach 60 Stunden Regen scheint uns die Decke auf den Kopf zu fallen, wir beschliessen, am nächsten Morgen aufzubrechen und abzusteigen, Regen hin oder her. Doch plötzlich reisst der Himmel auf, zwischen den Nebenschwaden zeigen sich Wiesen, grün-weiss gesprenkelt vom frisch gefallenem Puderzucker-Schnee. Die Nacht ist kalt und klar.


11. Tag: Kampf um die beste Sicht

Der Poon Hill ist erfüllt von Geschnatter und Gekeife. Krishna schätzt die Menge auf 250 Personen, das sei wenig im Vergleich zum Höhepunkt der Saison, wo sich gut und gerne 500 Personen auf dem 3200 Meter hohen Hügel um die besten Plätze balgen. Um halb fünf hatte Krishna an die Tür geklopft, wir steigen, die Stirnlampen festgezurrt, in exakt 42 Minuten 435 Höhenmeter hinauf. Oben wird Kaffee und heisse Schokolade verkauft, die Preise können sich mit Starbucks messen, doch die Umgebung ist atemberaubend. Wie in einem riesigen Amphitheater breiten sich die Gipfel des Himalaya aus, im Westen die Kathedrale des Daulaghiri, dann die von mächtigen Wächten gekrönte Wand des Annapurna South, welcher den dahinter liegenden Annapurna I verdeckt; dann steigt das Dreieck des Macchapucchare in die glasklare Luft, und der Manaslu, klotzig und breit, schliesst die Kette im Osten ab. Wo in der Welt blickt man gleichzeitig auf drei über 8000 Meter hohe Berge? Auf Gletscher, Fels und Schnee und Eis, die sich derart steil und hoch nach oben schwingen, dass einem selbst aus der Entfernung schwindlig wird?


Die Luft ist nach all dem Regen derart klar, dass man glaubt, die Gipfel mit Händen greifen zu können. Und bei den ersten Strahlen rosaroten Lichts ertönt der Chor aus mehrstimmigen Aaaahs und Ooooohs oder, eher auf der gutturalen Seite des Lautspektrums, die Freude und Entzücken signalisierenden Hnnnngs der chinesischen Massen, die sich in Gruppen zwecks Erinnerungs-Fotos in Pose werfen und wild dazu schnattern wie Kinder beim Murmelspiel. Seriöse westliche Fotografen haben ihre Stative in den Boden gerammt und die grossen Teleobjektive montiert und versuchen die Linie gegen die immer wieder vorpreschenden Chinesen zu verteidigen. “Fai-di, fai-di” (Beeilung, bitte) nützt sofort und wird mit einem verlegenen Lächeln und “solly solly” quittiert.

 

Ja, die Massen. Die Hochsaison hat begonnen, es sind hunderte westliche Trekker unterwegs, und weil in China die dieses Jahr wegen dem 60-Jahr-Jubiläum der Volksrepublik besonders lange Oktober-Ferienwoche kommen noch hunderte con Chinesen dazu. Sie sind nett, aber laut, kochen in den Lodges ihr eigenes Essen, doch sonst verhalten sich nach dem Motto “same same, but different”: Anstelle der Leki-Wanderstöcke verwenden manche die Stangen von Sonnenschirmen, um sich abzustützen, ein überaus ulkiges Bild. Dann kommen die Inder und die Russen und die Polen und die Tschechen. Alle waren vor 15 Jahren nicht unterwegs, als die exotischen Länder noch den westlichen Reisenden gehörten, wie es sich in den guten alten prä-globalisierten Zeiten geziemte. Die Massen wandern die Pfade auf und nieder, die Lodges sind gefüllt, manchmal wünscht man sich in die Ruhe einer abgelegenen Schweizer Alp. Doch die Nepalis freut’s und sie erhöhen munter die Preise auf schon fast unverschämte Höhen. Satte zwei Franken 50 Rappen für ein Stück Apfelstrudel, “mä nimmts vo de Läbige”, sagt man im Bernbiet, aber wer will es den Menschen hier verargen, dass sie den unermesslich reichen Besuchern in der kurzen Saison aus der Tasche ziehen, was sie eben können. Und noch etwas, wenn wir schon bei den unangenehmen Aspekten sind: Das Essen ist eintönig und meist fettig: Pizza, Nudeln, Momo, Toast, Pancake, Eier, und jeden Tag dasselbe. Voilà, soviel zum Thema stänkern.


Immerhin bieten die Massen von Trekkern auch die Chance, nette Mit-Wanderer zu treffen, so wie unsere vier Regen-Hütten-Jass-Freunde, von denen wir uns nach Abstieg dem Poon Hill trennen. Wir wandern weiter in Richtung Tadapani, einen steilen Grat hinauf, der schon bald in feuchtem Nebel liegt. Die Trekker und Träger sind nur noch schemenhaft zu erkennen, wie Geister in einem verwunschenen Wald bewegen sie sich durch den Dschungel, der beim Abstieg von der windigen Kante beginnt. Flechten hangen von den mehrere hundert Jahre alten, riesigen Rhododendron-Bäumen, die hier jeweils im Frühjahr ein Feuerwerk knallbunter Farben veranstalten. Das Moos ist grün wie Flaschenglas, die Bäume stehen dicht und recken ihre rötlich schimmernden, dünnen Stämme so verschlungen hinauf ans Licht, als wollten sie miteinander tanzen. Würde man sich wundern, wenn hinter der nächsten Biegung Kobolde und Elfen liegen und den Wanderern eine lange Nase drehen würden?


Der Weg führt steil hinunter durch eine enge Schlucht, und man ist froh, dass man nicht die umgekehrte Richtung läuft, aus der einem am Ende einiger Gruppen wild schnaufende Trekker entgegen kommen, für die man schlimmes befürchtet. Tadapani ist herunter gekommen, die Losges sind überfüllt, wir ergattern eines der letzten freien Zimmer, und zum ersten mal führen wir uns in der muffigen, engen und schmuddeligen Abseige so richtig unwohl. Draussen dräut der Nebel, alles ist kühl und klamm. Aber: Was für ein Tag, welche Vielfalt von Eindrücken….


12. Tag: Sonnenaufgang zum zweiten

… und was für ein Erwachen: Wo gestern eine wabernde graue Wand stand, schweift der Blick heute vom Annapurna Süd ungehindert bis zum Fishtail. Die Riesen sind noch näher als auf dem Poon Hill, Gebetsfahnen flattern im Wind, die Luft ist kühl und klar. Tief durchatmen und geniessen, diese Momente kommen zu selten wieder. Als wir wieder in den Dschungel eintauchen, wälzen sich bereist die ersten Nebelschwaden die Hänge empor. Noch ist viel Feuchtigkeit in der Luft und in der Erde, die Sonne heizt gewaltig ein und schon um zehn Uhr sind die Gipfel wieder “schüchtern”, wie Krishna zu sagen pflegt. Doch unten bleibt es sonnig, wir wandern durch den Märchenwald, entdecken Languren und Blutegel und steigen hinunter nach Ghandruk, einem grossen Gurung-Dorf. Hier ginge es nach hinten ins Annapurna Base Camp, nochmals vier Tage, in eine der gewaltigsten Berg-Landschaften, welche die Welt zu bieten hat. Ich spüre ein Kribbeln im Magen, doch in Pokhara locken warme Dusche, ein weiches Bett, ein Swimming Pool und ein saftiges Steak. Und wir haben Termine, einen Flug nach China, und überhaupt: Man will ja noch Träume offen haben.



13. Tag: Zurück an die Wärme


Es wird schon zur Routine: Aufstehen, Sonnenaufgang, staunen, Frühstück, Abmarsch. Wir lassen uns über steile Steintreppen hinunter fallen, es ist wie ein auslaufen nach einem Marathon. Nochmals ändert die Landschaft,: Reis und Hirse stehen hoch, ihr grün glänzt wie die grünsten Äpfel, die Terrassen ziehen sich bis an den Rand der Schlucht, in der der Modi Kola tost. Der Weg wird breiter, Krishna erzählt uns, dass die Regierung eine Strasse durch dies traumhafte Tal bis nach Chhumrung sprengen will, das Einfallstor zum Annapurna Base Camp. Same Old Story also, man muss sich beeilen, um dem offenbar unausweichlichen  Fortschritt zuvorzukommen. Krishna sagt, die Menschen hier warteten verzweifelt auf die Strasse, die ihnen schon lange versprochen sei. Man glaubt es und versteht es.

Wir schaukeln im Bus von Naya Pul nach Pokhara, verabschieden uns von Krishna und Nima, springen in den Pool der Fishtail Lodge, essen abends in Balsamico mariniertes Italian Beef und Tandoori Chicken und Lemon Meringue Pie. Das Bett ist weich, die Kleider sauber, der Gaumen zufrieden, man hat bekommen, was man sich wünschte und wir sind wieder dort, wo wir offenbar hingehören: in der Zivilisation.


Es braucht starke Nerven, um zusehen zu können, ohne dass sich der Magen nach aussen stülpt: Der Priester sitzt am Boden, sprenkelt Wasser und Reis auf die Ziege, die aufgeregt zu meckern beginnt, als würde sie ihr Schicksal ahnen. Blumengirlanden  werden auf ihren Kopf gelegt, das Tier versucht sich dem Griff des kräftigen jungen Burschen zu entwinden. Doch dieser reisst ihren Kopf nach hinten und durchtrennt mit einem einzigen kräftigen Schnitt die Halsschlagader, so dass das. Blut in hohem Bogen heraus spritzt. Das Ziel des roten Strahls ist der Kühlergrill zweier Autos, die mit offenen Motorhauben in der engen Gasse stehen. Dann trennt der Priester, der die Puja leitet, den Kopf der Ziege ab, legt ihn auf den Boden, schüttet Öl darauf und zündet es an. Den beiden Autos und ihren Insassen wird im kommenden Jahr mit Sicherheit nichts zustossen.



Dassain in Bhaktapur: Verkehrsfrei soll sie sein, steht noch in den Reiseführern, und bei meinem letzten Besuch vor zwei Jahren störten tatsächlich nur ganz wenige Motorräder die Ruhe der ehrwürdigen alten Königsstadt am Rande des Kathmandu-Tals. Ist es Dassain oder bloss der übliche Lauf der Dinge? Unsere Flucht vor dem Lärm Kathmandus misslingt, denn auch in Bhaktapur zwängt sich ein steter Strom von  hupenden Töffs und ratternden Traktoren durch die Strassen, in ständigem Kampf um den beschränkten Platz mit hunderten von Fussgängern. Die Stadt brodelt vor Leben, man handelt mit Hühnern, Büffeln und Ziegen, die bald alle ihr Leben lassen werden. Göttin Durga fordert Blut an diesem wichtigsten Fest der nepalischen Hindus, und zu segnen und zu schützen gibt es gar vieles. Um Mitternacht sollen im Haupttempel 108 Büffel mit je einem einzelnen Schwerthieb enthauptet werden. Wir ersparen uns das Schauspiel, Tim tobt mit ein paar Kindern auf den Stufen des Thaumadi Tole-Tempels, wir gehen essen - no goat, please - und freuen auf eine ruhige Nacht. Fehlanzeige: Unser Hotel liegt an der Hauptstrasse, und ab 21 Uhr ziehen Gruppen von Trommlern und Pfeifern vor unserem Fenster vorbei. Nach Mitternacht kehrt Ruhe ein, doch ab 4 Uhr morgens wird wieder gepfiffen und getrommelt, was das Zeugs hält. Die Musik erinnert an den Basler Morgestraich, und auch das Timing stimmt nicht schlecht. Und was soll’s: um andere Sitten zu erleben, sind wir ja hier hergekommen.


Den nächsten Tag lassen wir ziemlich müde mit planlosem Bummeln verstreichen. Die Monumente der Stadt - sie stammen aus der Blütezeit der Newari-Königreiche im 17. Jahrhundert - sind grandios und liefern einen faszinierenden Hintergrund zum Leben von heute, das immer noch den gleichen Gesetzen folgt. Die Reste des Schlachtfestes der vergangenen Nacht sind noch überall zu sehen: Gruppen von Männern nehmen auf den Plätzen die Büffel aus, schneiden die Bäuche auf, entfernen, Lunge, Herz, Gedärme und Leber, während das Hirn, das Prunkstück, fein säuberlich auf einer silbernen Platte zur Schau gesellt wird. Immerhin ist alles so frisch, dass es nicht stinkt, und Tim bekommt einen erstklassigen Live-NMM-Unterricht zum Thema Büffel-Anatomie. Er nimmt’s locker, selbst vor dem Morgenessen.


Noch mehr Interesse zeigt Tim allerdings für die Drachen, die die Kinder zu Dassain steigen lassen. Es geht darum, den anderen Drachen mit geschickten Manövern die Schnur zu durchtrennen und diese abzuschiessen, wie im Film “Kite Runner”, der allerdings in Kabul spielt. Wir kaufen Spule und zwei Drachen, gehen auf den Durbar Square. Kinder wirbeln über den Platz wie Papierfetzen, die vom Wind getrieben werden. Sie ziehen an Schnüren, drehen an Spulen, doch leider sieht das ganze wie immer einfacher aus, als es ist. Je nachdem, wie weit man die Stange dreht, die durch die Bambussspule führt, lässt sich Schnur ablassen - oder die ganze Sache ist blockiert. Aber schon bald ist Tim von einheimischen Kindern und Jugendlichen umringt, die ihm zeigen, wie man geschickt mit dem Drachen umgeht. Tim schiesst einen Drachen ab - und verliert einen. Das reicht, wir haben nur zwei Drachen, und den letzten will er unbedingt noch in die Berge mitnehmen.