Samstag, 19. Dezember 2009

Ferien von Indien


Indien hält immer wieder Überraschungen bereit. So kann man Ferien machen von Indien, ohne das Land zu verlassen: in Goa. Der Patnem Beach ist noch ruhig in der Vor-Weihnachtszeit, das “richtige” Indien, der Verkehr, die Händler, die Rikschafahrer, sind weit weg. Und so spannen wir aus, und auch der Blog ruht für eine Woche, die wir planlos vertrödeln. Zum Beispiel mit

Spaziergängen am Strand:


Hunde streicheln:


Lesen in der Hängematte:


Sonnenuntergängen fotografieren:


Fischen:


Kokosnuss-Weitwurf


Strand-Akrobatik


Drinks an der Bar


Tandoori-Tuna essen


Yoga für Anfänger…


…und Profis


Und das beste ist: In diesem entspannten Klima beginnen selbst meine Haare wieder zu spriessen


In diesem Sinne wünschen wir allen fröhliche Weihnachten !!!

Der Sadhu von Spreitenbach


Dewas hat Pech gehabt. Sonst würde er heute seinen eigenen Suzuki Maruti fahren. Doch als er vor zwei Jahren nach hause kam, stand sein Haus in Flammen. Ausgeflossenes Kochöl. Seine Frau zog sich schwere Verbrennungen am ganzen Körper zu, er selbst zeigt uns seine verbrannten Hände. Die Spitalpflege habe 2 Lakh gekostet, 200’000 Rupien, etwa 4500 Franken. So viel wie ein Kleinwagen. Und so fährt Dewas halt immer noch im Maruti seines Cousins die Kunden durch die Gegend. Wenigstens hat er viele Cousins: Dem einen gehören zwei Taxis, dem anderen ein Restaurant, dem dritten ein Hotel. Nur er habe Pech gehabt im Leben, aber mit Hilfe grosszügiger Kunden werde er es schon noch schaffen. “Good Driver, Sir?” und “Safe Driver, Sir?”, will er alle paar Minuten wissen, während er über die Holperpiste brettert. Und dabei schaut er eine Spur zu unterwürfig nach links, zu offensichtlich darauf bedacht, den Preis doch noch nach oben zu drücken - zumindest in der Form eines Trinkgeldes. Seltsam: Erzählt einem in Indien jemand seine Leidensgeschichte, kommt man stets auf den Gedanken, die nächste Bemerkung werde eine Bitte nach Geld sein. Ist es meistens auch. Schade, nicht immer ein gutes Gefühl.


Dieses stellt sich jedoch bald wieder ein, als wir Maheshwar zu erkunden beginnen. Eine alte Pilgerstadt am Ufer des Narmada, der träge und breit ein glitzerndes Band durch die heisse Ebene zieht. Badeghats und kleine Tempel reihen sich am Fluss entlang auf bis zu einem Fort, das weitere Tempel umschliesst. Die Pilger schlafen im Tempel am Boden, am morgen schreiten sie zum rituellen Bad. Frauen waschen Kleider. Trinken heiliges Wasser und beten. Männer seifen sich die Köpfe und Körper ein. Buben springen übermütig ins Wasser. Auf den kleinen Schreinen liegen Blumen, die Götterbilder sind mit Girlanden geschmückt. Toll, so viele Klischee-Bilder am selben Ort.


Wir treffen Hans-Ruedi aus Spreitenbach. Ganz im Sadhu-Look. Schmuddelige lange Haare, grauer Bart, dreckige rote Robe, eine kleine Umhängetasche. Er ist schon seit vier Jahren in Indien und flucht, es werde immer schwieriger, ein Business-Visum zu bekommen, das ihm ein Jahr Aufenthalt garantiert. In der Schweiz war er schon lange nicht mehr. Sieht auch keinen Grund dafür. Und flucht weiter, dass auch Indien immer kommerzieller werde. Dass man überall Eintritt bezahle. Den Sadhu-Trick kaufen sie ihm bei den Ticket-Schaltern wohl nicht ab. Dafür sieht Hans-Ruedi noch zu westlich aus. Was ihn ärgern dürfte.


Auch “echte” Sadhus streifen in grosser Zahl durch das Städtchen, das ruhig und entspannt wirkt. Wenig Verkehr, keine Touristen - ausser Hans-Ruedi halt, der es sich verbitten würde, so bezeichnet zu werden. Die Häuser strahlen einen morbiden Charme aus. Irgendwie weiss man nie, ob ein Gebäude zerfällt oder gerade neu gebaut wird. Die Grenzen sind fliessend. Auf den Strassen auch. Wo hört die Strasse auf? Wo beginnt der kleine Laden am Rand? Wo der Randstein? Es gibt Ansätze zu einem Gehsteig. Doch dieser hört irgendwo wieder auf. Zerbröselt und zerfällt. Fertig gebaut ist nichts in Indien. Weder Häuser noch Strassen noch der Bahnhof oder der Platz, auf dem die Busse halten. Nicht einmal zu Ende gedacht. Weshalb auch? Nichts ist endgültig, alles dreht sich immer weiter, hat weder Anfang noch Ende.


Mandu und Mahehshwar sind ruhige Oasen. Doch wir spüren die Müdigkeit in Körper und Seele. Wir sind zweieinhalb Monate unterwegs. Voll mit Eindrücken und Erlebnissen. Wir brauchen eine Pause und wir freuen uns auf Goa, das Meer und den Strand. Jet Airways und Air India bringen uns hin. Bequem und in knapp fünf Stunden.



Die Legende vom feigen Baz-Bahadur


“Guten Morgen”, sagt Doktor Patel. Auf deutsch. In einem A2-Abteil von Bhopal nach Ujjain. Dr. Patel, so wird er uns bald erzählen, hat zwei Jahre auf der indischen Botschaft in Bonn gearbeitet. Bis es ihn zurückzog nach Indien, um “hier meinem Land zu dienen”. Wie genau, lässt er offen. Dr. Patel ist sehr freundlich und erklärt uns, wie alles hier im Abteil funktioniert. Wir fahren erstmals in einem Sleeper, aber am Tag. Um sieben Uhr müssen die Betten heruntergeklappt werden. Dann wird gesessen. Und dann kommt jemand vorbei, der wischt und feucht aufnimmt, Tee und Frühstück bringt. Die zwei Insassen der oberen Kojen schälen sich etwas widerwillig aus den Laken. Aber sie tauen schnell auf. Bald tauschen wir Kekse aus. Und Tim erklärt allen die Regeln des “Schiffe versenken”. Dafür erhalten wir eine Zeitung. Und Dr. Patel stellt Tim einen USB-Stick-betriebenen Lautsprecher hin. Er spielt gregorianische Choräle, von Schlagzeug und Synthesizer untermalt. Draussen zieht eine bukolische indische Landschaft vorbei. Schirmakazien, dunkelbraune, trockene Erde. Ziegen und Ochsenkarren. Und dazu gregorianische Choräle.

Das Schöne am Hinduismus sei, meint Tim, dass es überall Tempel habe. Und diese sähen immer ganz unterschiedlich aus. Das ist wahr. In Ujjain steht nicht ein besonders prächtiger, sondern ein besonders heiliger: der Gopal Mandir, wo sich eines der in ganz Indien nur in einem Dutzend vorkommenden phallischen Jhoti-Lingams des Shiva-Kults befindet. Es wimmelt von Sadhus, die Sicherheitsvorkehrungen sind gross, überall Polizei. Wir stellen uns in die lange Reihe der Pilger, die ihre Blumengirlanden und Reisschalen als Opfergabe bereit halten. Doch es geht nur langsam vorwärts, und es ist schon spät. Also wieder hinaus aus der Schlange, ohne das Wunder-Lingam erblickt zu haben. Dafür in der Abenddämmerung zu den Ghats, wo gebadet und gewaschen wird. Auch hier gibt es Pedalos. Auf dem heiligen Fluss Shipra, wo alle zwölf Jahre die Khumb Mela stattfindet, das grösste Pilgerfest Indiens, das Millionen anzieht. Tim und Kathrin wagen eine Fahrt, ich verweile unter den paar Dutzend Pilgern, die in Minibussen heranpreschen, sich das heilige Wasser ansprenkeln, ein paar Blumen in den Fluss werfen und wieder verschwinden. Puja im Eilzugtempo.


Mehr los ist auf dem nahen Rummelplatz, denn weltliche Genüsse werden auch in Indien nicht verachtet. Wir stolpern in der einbrechenden Nacht an Schiessbuden, Putschautos und klapprigen Riesenrädern vorbei, werden als weit und breit einzige Weissköpfe selber zur Attraktion staunender Menschen, die sich in Trauben um uns drängen. Eher unangenehm. Doch im Trubel der Massen finden wir kaum den Weg zurück zum Fluss. Durchatmen. Es ist zwar nicht bedrohlich, aber ausgestellt zu sein in einer ausgelassenen Menge ist eine Erfahrung, die Nerven kostet. Zum Glück ist eine Rikscha nicht weit, die uns wieder in “sichere” Gefilde bringt.


Nerven kostet auch die Verhandlung mit den Taxi-Fahrern am Bahnhof von Indore, einer hässlichen Industriestadt südlich von Indore. 2500 Rupies sollen es zuerst sein für die Fahrt nach Mandu, knappe hundert Kilometer entfernt. Die Taxifahrer scheinen spontan ein Kartell gebildet und sich abgesprochen zu haben, denn keiner will billiger fahren. Doch zum Glück spielt letztlich auch hier der Markt. Denn nun schalten sich die Autorikscha-Fahrer ein und bieten die Reise für 1200 an. Was unter den Taxi-Gaunern zu heftigen Protesten und üblen Verlautbarungen über die Gefährlichkeit des Reisen in der Rikscha führt. Wir geben uns unbeeindruckt. Drei Stunden in der Rikscha wollen wir zwar vermeiden, aber die Konkurrenz lässt den Preis plötzlich purzeln. Zuletzt steht die Rikscha-Fahrt bei 800, die Taxi-Mafia bietet 1200. Akzeptiert. Dann folgt das übliche Prozedere. Fahrt zur Taxizentrale. Reifenwechsel. Tanken. Zuerst Gas. Dann Benzin. Lange Debatten um einen Vorschuss. Kontrolle des Reifendrucks. Nochmals Gas nachtanken, da der Tankdruck zu niedrig. Dann sind wir unterwegs - und zwei  Stunden später in Mandu. Ohne jeglichen Zwischenfall.


Das Städtchen liegt auf einem Felsplateau hoch über dem Tal des Narmada. Viel los ist hier oben nicht. Da muss man 500 Jahre zurückblättern, als Mandu Hauptstadt eines von afghanischen Gouverneuren gegründeten Königreiches war, das weite Teile Zentralindiens beherrschte. Da sollen eine Millionen Menschen hier gelebt haben. Etwas übertrieben vielleicht. Aber weitläufig ist die Ruinenstadt schon, die sich zwischen Baobab-Bäumen und einzelnen, weit verstreuten Bauernhöfen hinzieht. Die schönste afghanische Architektur, welche die Wirren der indischen Geschichte, all diese Kämpfe, Kriege und gestürzten Reiche auf dem Subkontinent hinterlassen haben. Und voller süffiger Geschichten. Jener von Sultan Ghiyas ud-Din etwa, der in einem eigens gebauten Lustschloss in Dutzenden von Wasserbecken mit 15‘000 Haremsdamen geplanscht haben soll. Mit 80 fiel er einem Giftanschlag seines eigenen Sohnes zum Opfer. Verständlich, der Sohn war wohl auch nicht mehr der jüngste und dürfte verzweifelt darauf gewartet haben, endlich den Bademeister-Job zu ergattern.


Etwas romantischer die Legende des Herrschers Baz-Bahadur, der sich in die überirdisch schöne Sängerin Rupmati verliebte. Um sie dazu zu bewegen, ihre Heimat in der Narmada-Ebene zu verlassen und zu ihm zu ziehen, soll er ihr den grazilen Pavillion am Rande einer 166 Meter hohen Felswand hoch über dem flachen Flussland gebaut haben. Sie liess sich locken. Doch Mogul-Herrscher Akbar hörte von Rupmatis Schönheit und liess seine Truppen gen Mandu ziehen. Und was tut Baz-Baradur? Der feige Kerl schlägt sich in die Büsche. Und Rupmati, heldinnenhaft, entzieht sich dem Zugriff des Feindes mit Gift. Se non e vero, e ben trovato, sagen die Italiener. Jedenfalls steht der Pavillion immer noch. Und die Sonnenuntergänge hoch über dem Narmada sind an Romantik kaum zu übertreffen.


Mandu ist magisch. Ein kleines Dorf am Rande des Plateaus. Eine Busstation. Eine staubige Strasse voller Pilger, die auf dem Weg zwischen Ujjain und Maheshwar hier vorbei ziehen und auf dem Markt um die Baobab-Früchte feilschen. Ein paar Ochsenkarren. Das ist alles. Keine Touristen. Wir treffen in drei Tagen jedenfalls nur eine Handvoll Franzosen. Eine vergessene Welt, zu weit weg von Bahn- und Buslinien. Wir mieten Velos und lassen uns über das Plateau treiben, in sanftem auf und ab. Die Landschaft erinnert an Afrika. Die Baobabs. Die schroffen Canyons, nur mit Akazien bestanden. Die verstreuten Gehöfte. Die Ziegenherden, die über ockerfarbenen Boden ziehen. Und dazwischen die Ruinen aus den Zeiten, als hier lüsterne Herrscher ihr Unwesen trieben. Zwiebelkuppeln und Bogengänge, die das milchiger Morgenlicht Licht in Streifen schneiden.

Es ist seltsam. Die Indischen Monumente haben jeglichen Bezug zur heutigen Welt verloren. Sie stehen isoliert auf trockenen Feldern, zerfallen, wie fast alles in Indien. Losgelöst von ihrem Umfeld, als Mahnmale an eine Zeit, die nicht mehr zu erfassen ist. Zur gleichen Zeit entstanden etwa in Italien die Renaissance-Paläste und die Städte mit ihren Bürgerhäusern, die auch heute noch vollständig erhalten sind. Die bewohnt und genutzt werden. Verändert und umgebaut zwar, lassen sie Rückschlüsse zu auf das Leben von damals, den Alltag der Menschen vor 500 Jahren. Nicht so in Indien. Die Häuser, Gassen und Strassen der einst mächtigen Städte sind verschwunden. Geschleift und geplündert von den Armeen fremder Herrscher, die ihre eigenen Reiche errichteten, bevor auch diese wieder zerfielen. Ohne Spuren zu hinterlassen. Oder höchstens in Form einiger weniger Prachtbauten. Anders als in Europa gibt es, was die Bausubstanz angeht, kein kulturelles Kontinuum, das frühere Zeiten lebendig und vorstellbar macht. Gleich geblieben ist höchstens der Glaube, die Religion, die immer noch so lebendig erscheint wie vor Jahrhunderten. Im Gegensatz zu Europa, wo sie ihre Bedeutung für den Alltag der Menschen längst verloren hat.


Wir haben uns im Malwa Resort einquartiert, dem staatlichen Gästehaus direkt an einem kleinen See. Die staatlichen Hotels haben oft die beste Lage, sind günstig und komfortabel. Kleine Idyllen. Und die beste Umgebung für Tim, um sich in Ruhe den Hausaufgaben zu widmen. Bewacht von der Hündin, die uns entschlossen gegen Affen und die Rudel anderer Hunde verteidigt, seit wir sie großzügig zu füttern begonnen haben. Sie ist abgemagert und ausgezehrt von den Jungen, die sie kürzlich gross gezogen hat. Ein Ohr steht steil nach oben, das andere hängt schlaff hinunter. Wir nennen sie Splitty. Ihr Blick bringt Steine zum schmelzen.

Indische Hotels haben ihre Eigenheiten. So die riesigen Schaltflächen mit mindestens zehn Lichtschaltern. Acht davon haben nicht die geringste Wirkung, bis man die zwei gefunden hat, die Licht oder Kühlung bringen, braucht es viel Geduld. Glückssache dann, wenn der Strom fliesst. In Mandu tut er es oft nicht. Aber die Reparatur-Equipe ist meist nicht weit. Und sie geht mit derart innovativen Methoden an die Probleme heran, dass diese meist in Windeseile gelöst sind. Nur die Suva würde protestieren.

Montag, 7. Dezember 2009

…. und geschlossenen Löwen


Bhopal ist zu 60 Prozent muslimisch. Das merkt man. Zumal an Eid, dem muslimischen Opferfest. Weiss gewandet fahren die Männer auf allen möglichen Gefährten zur Moschee. Das rituelle Schlachten der Ziegen und Büffel ersparen wir uns. Wir haben schon zu viel Tierblut fliessen sehen in den letzten Wochen. Aber die Moscheen besuchen wir trotzdem. Die Taj ul-Masjid und die Jama Masjid, beide von Begumas in Auftrag gegeben, den muslimischen Herrscherinnen Bhopals im 19. Jahrhundert. Doch sie sind wenig einladend, und im grossen Hof  der Taj-Moschee beglückt mich eine Gruppe eifriger Männer höflich zwar, aber eindringlich mit einer 15-minütigen Belehrung über meinen “teuflischen Irrglauben“. In bestem Englisch. Dass ich sofort beginnen müsse, den Koran zu lesen, am besten gleich jetzt mit ihnen zusammen. Dass ich sonst direkt zur Hölle fahren werde. Denn der Islam sei der einzige und alleinige Weg zu Frieden und Glück und Erfolg. Ohne jeden Zweifel. Weshalb sind es eigentlich stets Muslime, die einem ihren Glauben mit Vehemenz aufzwingen wollen und andere Religionen pauschal verdammen? Bin ich schon mal einem Buddhisten begegnet, der mich bekehren wollte? So wenig wie sich Hindus in der Regel um die Frage scheren, an welchen Gott der tausend in ihrem Pantheon ich denn nun zu glauben beschlossen habe. Ist es ein Zufall, dass zwei Tage später die “Hindustan Times” in einem prominent aufgemachten Artikel berichtet, die Schweiz habe die Minarett-Initiative angenommen?


Bhopal ist auch die Stadt der grossen Chemie-Katastrophe, die vor ziemlich genau 25 Jahren zehntausende von Todesopfern gefordert hat. Und auch das merkt man. Aussergewöhnlich viele verkrüppelte Bettler strecken einem ihre grotesk verrenkten Gliedmassen entgegen. In den Zeitungen ist zu lesen, dass auch 25 Jahre später das Trinkwasser in einigen Gegenden noch verseucht ist. Dass immer noch Menschen an den Spätfolgen, wie Unfruchtbarkeit und Sehbehinderungen, leiden. Dass die meisten Opfer mit der Behandlung in den eigens dafür geschaffenen Spitälern nicht zufrieden seien. Dass die mickrigen Entschädigungen, die Union Carbide (heute unter dem Dach Dow Chemical) gezahlt hat, noch nicht bei allen Opfern angelangt sind.

Sonst ist Bhopal vor allem unsäglich schmutzig und unsäglich lärmig. Die Häuser der einst schmucken Altstadt sind am bröseln, falls sie noch nicht schäbigen Betonklötzen weichen mussten, auf denen der Monsun braune Schlieren hinterlassen hat. Durch die Strassen wabern Auspuffdämpfe, die Märkte sind voller Abfall, es hat wenig, was das Auge erfreut. Immerhin gibt es ausserhalb der Stadt ein paar Fluchtpunkte. Einmal Sanchi, die Ruinen der frühesten und wohl schönsten buddhistischen Monumente Indiens. Sie wurden von Kaiser Ashoka im 2. Jahrhundert v. Chr. als Busse für das Gemetzel seiner Truppen in Orissa in Auftrag gegeben, nachdem sich dieser zum Buddhismus bekehrt hatte. Die Stupa im Zentrum ist weder gross noch besonders kunstvoll gebaut. Doch die Tore in den vier Himmelsrichtungen brillieren durch Reliefs von einer Feinheit, wie ich ihr bisher nur in Angkor begegnet bin. Und wie in Orccha liegen die Ruinen in einer idyllischen, ruhigen Umgebung, auf einem Hügel über einer weiten Ebene. Dort flitzen die Züge wie blaue Pfeile in der Ferne vorbei und erinnern mit ihrem lang gezogenen Tuten an das Chaos der Städte, dass sie anpeilen.


Wir treffen Mike, einen ausgestiegenen Deutschen, der in Laswal’s Lodge die Tage verstreichen lässt. Er hat alles geschmissen in der Heimat, will endlich das grosse Abenteuer erleben. Mit kleinem Budget. Nun ist ihm im Gedränge beim Einsteigen in den Zug ein grosser Teil seines Geldes gestohlen worden. “Ein Klassiker, Taschendiebe, selber schuld, dass ich so blöd war”, sagt Mike, der hager und ausgemergelt ist. Das pure Gegenteil von Laswal, ehemaliger Colonel der Indian Army, wie er sogleich und mit sichtlichem Stolz betont. Er trägt einen Wunderschnauz, schneeweiss. Auf beiden Seiten steht das Kunstwerk, zu einer Schnecke gekringelt, etwa fünf Zentimeter über die Backen hinaus. Überall stehen Bilder aus seiner Aktiv-Zeit, doch dass hier ein Soldat steht, merkt man auch sonst: Colonel Laswal trägt olivgrünen Strick, sein Blick ist schneidig. “Zu Diensten Sir“, quittiert er unsere Bestellung.

Wir verpassen das Festival, an dem einmal jährlich die Reliquien zweier Schüler Buddhas der Öffentlichkeit präsentiert werden, um einen Tag. Vielleicht besser so, denn es werden 100’000 Buddhisten aus aller Welt erwartet. Dafür machen wir einen Sonntags-Ausflug an den Bhopal-See am Stadtrand. Hier steht das Museum of Man, eine Art indisches Ballenberg - doch waren wir da nicht schon in China…. Behausungen der Adivasi, der Ureinwohner aus allen Teilen Indiens, rotten vor sich hin. Das Museum ist dagegen gut gemacht, eine Fundgrube ethnographischer Artefakte aus einem Indien, das es so nicht mehr gibt. Kleider und Waffen und Schmuck und Haushaltgegenstände Dutzender von Volksgruppen, deren Kultur wie überall auf der Welt vom globalen Mainstream verschlungen wird.

Das Museum ist fast leer. Im Gegensatz zum Seeufer beim “Bhopal Boat Club”. Hier herrscht sonntägliche Feststimmung. Wir beteiligen uns am Motorboot-Rundendrehen um eine kleine Insel, essen Popcorn und Dhel Puri, frittierte Nudeln mit Zwiebeln, den hiesigen Snack, amüsieren uns über die klapprigen Pedalos und die schräge Mode. Indische Männer sind in den 70er Jahren stecken geblieben. Um die schmalen Hüften knallenge Schlaghosen, mit Stickereien wie “Best Boy“ verziert. Dazu ein enges tailliertes Hemd mit langem spitzem Kragen. Oder ein Strickpullunder so altmodisch, dass er nur von Grossmutter stammen kann. Die meisten Jünglinge sind so dünn wie ein Strohhalm und so fein gebaut, dass man sie mit einem Atemzug wegpusten könnte. Ausser die wirklich bösen Buben. Die tragen grosse dunkle Pilotenbrillen und blicken finster. Man sieht sie selten, zum Glück.


Wie könnte man einen Sonntag im Park besser ausklingen lassen als im Zoo? Es ist ein Safari-Park, sogar, an einer fünf Kilometer langen Strasse sind die Gehege aufgereiht. Also brauchen wir eine Rikscha, denn wir sind müde. Der Eintritt ist wie immer für Ausländer etwa 50 mal so hoch wie für Inder. Inklusive Rikscha 1000 Rupies: 22 Franken, ein kleines Vermögen in Indien. Dafür kriegen wir geboten: Leere staubige Gehege. Leere dreckige Gehege. Einen fetten Albino-Lippenbären, der an einen orangen Yeti erinnert. Man sieht in weit entfernt und nur von hinten, und er wankt, und taumelt, als hätte er soeben einen Schlaganfall erlitten. Zwei faule Schildkröten in einem trüben Tümpel. Zwei Tiger weit entfernt im Bambus-Gesträuch. Eine müde Kobra hinter Glas Und eine Unterhaltung mit einem Parkwärter vor dem Löwengehege, die alles wieder wett macht. Um halb fünf, steht in unserem Führer, würden die Viecher gefüttert. Deshalb sind wir um vier hier. “Wann werden die Tiere gefüttert, Sir? - No Sir, please don’t feed the lion. - Nein nicht ich, wann füttern Sie? - Am Morgen. - Nicht um halb fünf? - Nein, um neun. - Alle Tiere? - Alle Tiere, ausser die Löwen. - Wann die Löwen? - Um vier. - Jetzt ist vier. - Ist jetzt vier? - Ja. Jetzt ist vier. - Sorry, Sir, Lion closed today”.

P.S: Wir haben uns in Bhopal bei Dr. Sameer intensiv beraten lassen und führen seither ein “happy married life”.

Von riesigen Geiern ….


“The Heart of Incredible India”. So nennen die Tourismus-Manager den Bundesstaat Madhya Pradesh, durch den wir langsam gegen Süden reisen. Den ersten Stopp hätten wir uns allerdings sparen können. Gwalior ist ein staubiges Nest mit einem nicht besonders sehenswerten Fort über einer quirligen Altstadt. Immerhin das. Und “schräge Gestalten” begegnen uns auch hier. Die Wächter im Sikh-Tempel, die auch Tim ein oranges Tuch um den Kopf legen. Bärtige Sadhus und Zwiebelverkäufer auf dem Markt, die unverdrossen ihr übles Indian English mit uns praktizieren wollen. Aber auch der unangenehm Besitzer des “Tourist Hotel”, zu dem wir uns vom Rikscha-Fahrer abschleppen liessen, nachdem unsere erste Wahl wegen einer Hochzeit ausgebucht war. Mit allen möglichen Tricks versucht er uns mehr als die ursprünglich vereinbarten 550 Rupies aus der Tasche zu ziehen. Zuerst will er den A/C-Zuschlag einkassieren, den wir zuvor wegverhandeln mussten, denn non-A/C war urplötzlich “unavailable“, nachdem das Gepäck in der Reception lag. Ich setze mich mit viel Gekeife durch, doch dann soll es einen happigen Zuschlag für Tims Matratze am Boden geben. Irgendwie einigen wir uns, doch es bleibt ein schlechtes Gefühl, zumal der Kerl den Matratzenzuschlag am nächsten Morgen ein zweites Mal einzutreiben versucht.

Die erste Begegnung mit einem unangenehmen Schlitzohr vergessen wir bald im Shabatdi-Express, dem Schnellzug, der uns nach Jhansi bringt. Er fliegt nur so über die Schienen, man sitzt in bequemen Sesseln, mit flotten roten Turbanen verkleidete Chai-Wallahs bringen Tee und Snacks, und wir kommen auf die Minute pünktlich an. Auch das Zug-System Indiens überrascht uns positiv. Die Züge fahren (bisher) zur Zeit, sind gut instand und gar nicht so schmutzig, sogar die oft geschmähten Toiletten.


In Orccha erwartet uns gleich eine weitere schöne Überraschung aus der indischen Wündertüte: Der Fluss Betwa fliesst fast unverschmutzt und klar durch eine idyllische Landschaft. Schwarze Granitbrocken bilden Sperren im Fluss und kleine Stromschnellen. Am anderen Ufer dehnt sich Wald über sanfte Hügel aus. Frauen waschen farbige Saris im Fluss, Und auf einem Stein am Damm sitzt ein Sadhu auf einem Felsen auf Touristen- und Rupienpirsch. Blumengirlande um den Hals, orange Hosen, langer Bart, Sandelholzpaste auf der Stirn. En Klassiker. Das Hotel, das wir uns nach den bisherigen Billigunterkünften leisten, liegt direkt über dem Fluss auf terrassierten Terrain. Es hat einen Pool, unser Zimmer eine Veranda mit Blick in den Garten. Das Wetter ist perfekt. 25 Grad am Schatten, trocken, leichte Brise, wolkenlos von morgens früh bis abends spät. Wir lassen uns erst mal hängen, lesen, dösen, während Tim Wespen aus dem Pool rettet. Wovon sich eine mit einem kräftigen Stich bedankt.


Das Dörfchen Orccha liegt zu Fuss fünf Minuten entfernt. Die Atmosphäre ist entspannt, die Menschen werfen uns Grüsse hin und ein stetes Lachen. Es hat wenig Touristen, ein paar Tour-Gruppen, die hier auf dem Weg nach Khajurao und Varanasi kurz halt machen, einige Traveller. Orccha war die Hauptstadt der Bundela-Dynastie, welche die Region im 17. Jahrhundert beherrschte. Und da sind so einige Tempel und Mausoleen und Paläste übrig geblieben. Tim liebt es, im Labyrinth der Gänge, Hallen, Treppen und Balustraden umherzurennen, von Absätzen zu springen und sich hinter Säulen zu verstecken. Zuoberst auf den Türmen und Kuppeln nisten Geier. Zwei Meter Spannweite. Mindestens, findet Tim. Sie machen Jagd auf die Streifenhörnchen und auf die grünen Papageien. Besichtigt hat man die Monumente in drei, vier Stunden. Doch Orccha lebt von der traumhaften Landschaft und der Stimmung in dem friedlichen Ort - perfekt, um sich drei Tage auszuruhen und die Sonne und die Ruhe zu geniessen. Zum Sonnenuntergang lassen wir uns auf einem Schlauchboot die Stromschnellen hinunter treiben. Tims erstes Rafting. Der Fluss ist so sauber, dass man sogar baden kann.


Im Zentrum von Orccha liegt ein alter hinduistischer Tempel. Pilger schlafen am Boden.  Am Zugang eine lange Reihe von Chai-Buden. Harte Bänke und Metalltische. Sonst nichts. Davor werden Pakora und Samosa gebrutzelt oder zuckersüsse Schleckereien angeboten. Überhaupt das Essen. Wir schlemmen morgens, mittags und abends. Gefüllte Paratha. Dal auf zahllose Arten, schwarz und gelb. Südindische Thali. Tandoori-Chicken. Raita. Kichererbsen-Curry. Paneer Tikka. Masala Dosa. Und dazu stets das luftige Naan-Brot. Dass uns Eltern die indische Küche zusagt, wussten wir. Aber für Tim hatten wir einige Bedenken und machten uns schon auf ein ständiges Gequengel und die mühsame Suche nach Western Food gefasst. Weit gefehlt. Tim liebt die exotischen Curries und das Brot und die frittierten Snacks und isst - welche Überraschung - sogar herzhaft Gemüse. Und er ruft stets nach der schärfsten Variante: “Spicy, please“. Famos. Und bisher sind wir alle kerngesund, obschon wir an jedem Strassenstand essen und trinken.


Tim macht sich einige Gedanken über die Unterschiede zwischen Indien und der Schweiz. Er vergleicht die Kosten des Lebens, beginnt zu merken, dass hier fast alles fundamental anders ist als in der Schweiz. Wir schauen zu, wie ein Mann am Abend seine Frau zudeckt, die sich am Strassenrand zum schlafen hingelegt hatt. Mit einer verdreckten Plastikplane. Vielleicht habe Papas teures atmungsaktives Trecking-Hemd mehr gekostet als alle Gegenstände, welche diese beiden Menschen besitzen, rechnet Tim vor. Wohl wahr.


Wir merken, dass wir uns an Orten wie Orccha bedeutend wohler fühlen als in den lärmigen und chaotischen Städten, so aufregend und spannend diese auch sind. Und so beschliessen wir, einige Städte im Süden Madhya Pradesh nur kürzer zu besuchen oder wie Bombay gleich fallen zu lassen und einen Flug von Indore nach Goa zu buchen. Abflug in zehn Tagen. Einige Telefone und Mails. Wir haben Glück, alles klappt. Obschon Goa gegen Weihnachten randvoll wird, finden wir noch knapp ein hübsches Family Cottage am Strand von Patnem.

P.S: Tim liess sich in Orccha die Haare schneiden:


Er wünschte sich die zweite Frisur von links in der oberen Reihe:


Es hat nicht ganz geklappt: