Montag, 7. Dezember 2009

Von riesigen Geiern ….


“The Heart of Incredible India”. So nennen die Tourismus-Manager den Bundesstaat Madhya Pradesh, durch den wir langsam gegen Süden reisen. Den ersten Stopp hätten wir uns allerdings sparen können. Gwalior ist ein staubiges Nest mit einem nicht besonders sehenswerten Fort über einer quirligen Altstadt. Immerhin das. Und “schräge Gestalten” begegnen uns auch hier. Die Wächter im Sikh-Tempel, die auch Tim ein oranges Tuch um den Kopf legen. Bärtige Sadhus und Zwiebelverkäufer auf dem Markt, die unverdrossen ihr übles Indian English mit uns praktizieren wollen. Aber auch der unangenehm Besitzer des “Tourist Hotel”, zu dem wir uns vom Rikscha-Fahrer abschleppen liessen, nachdem unsere erste Wahl wegen einer Hochzeit ausgebucht war. Mit allen möglichen Tricks versucht er uns mehr als die ursprünglich vereinbarten 550 Rupies aus der Tasche zu ziehen. Zuerst will er den A/C-Zuschlag einkassieren, den wir zuvor wegverhandeln mussten, denn non-A/C war urplötzlich “unavailable“, nachdem das Gepäck in der Reception lag. Ich setze mich mit viel Gekeife durch, doch dann soll es einen happigen Zuschlag für Tims Matratze am Boden geben. Irgendwie einigen wir uns, doch es bleibt ein schlechtes Gefühl, zumal der Kerl den Matratzenzuschlag am nächsten Morgen ein zweites Mal einzutreiben versucht.

Die erste Begegnung mit einem unangenehmen Schlitzohr vergessen wir bald im Shabatdi-Express, dem Schnellzug, der uns nach Jhansi bringt. Er fliegt nur so über die Schienen, man sitzt in bequemen Sesseln, mit flotten roten Turbanen verkleidete Chai-Wallahs bringen Tee und Snacks, und wir kommen auf die Minute pünktlich an. Auch das Zug-System Indiens überrascht uns positiv. Die Züge fahren (bisher) zur Zeit, sind gut instand und gar nicht so schmutzig, sogar die oft geschmähten Toiletten.


In Orccha erwartet uns gleich eine weitere schöne Überraschung aus der indischen Wündertüte: Der Fluss Betwa fliesst fast unverschmutzt und klar durch eine idyllische Landschaft. Schwarze Granitbrocken bilden Sperren im Fluss und kleine Stromschnellen. Am anderen Ufer dehnt sich Wald über sanfte Hügel aus. Frauen waschen farbige Saris im Fluss, Und auf einem Stein am Damm sitzt ein Sadhu auf einem Felsen auf Touristen- und Rupienpirsch. Blumengirlande um den Hals, orange Hosen, langer Bart, Sandelholzpaste auf der Stirn. En Klassiker. Das Hotel, das wir uns nach den bisherigen Billigunterkünften leisten, liegt direkt über dem Fluss auf terrassierten Terrain. Es hat einen Pool, unser Zimmer eine Veranda mit Blick in den Garten. Das Wetter ist perfekt. 25 Grad am Schatten, trocken, leichte Brise, wolkenlos von morgens früh bis abends spät. Wir lassen uns erst mal hängen, lesen, dösen, während Tim Wespen aus dem Pool rettet. Wovon sich eine mit einem kräftigen Stich bedankt.


Das Dörfchen Orccha liegt zu Fuss fünf Minuten entfernt. Die Atmosphäre ist entspannt, die Menschen werfen uns Grüsse hin und ein stetes Lachen. Es hat wenig Touristen, ein paar Tour-Gruppen, die hier auf dem Weg nach Khajurao und Varanasi kurz halt machen, einige Traveller. Orccha war die Hauptstadt der Bundela-Dynastie, welche die Region im 17. Jahrhundert beherrschte. Und da sind so einige Tempel und Mausoleen und Paläste übrig geblieben. Tim liebt es, im Labyrinth der Gänge, Hallen, Treppen und Balustraden umherzurennen, von Absätzen zu springen und sich hinter Säulen zu verstecken. Zuoberst auf den Türmen und Kuppeln nisten Geier. Zwei Meter Spannweite. Mindestens, findet Tim. Sie machen Jagd auf die Streifenhörnchen und auf die grünen Papageien. Besichtigt hat man die Monumente in drei, vier Stunden. Doch Orccha lebt von der traumhaften Landschaft und der Stimmung in dem friedlichen Ort - perfekt, um sich drei Tage auszuruhen und die Sonne und die Ruhe zu geniessen. Zum Sonnenuntergang lassen wir uns auf einem Schlauchboot die Stromschnellen hinunter treiben. Tims erstes Rafting. Der Fluss ist so sauber, dass man sogar baden kann.


Im Zentrum von Orccha liegt ein alter hinduistischer Tempel. Pilger schlafen am Boden.  Am Zugang eine lange Reihe von Chai-Buden. Harte Bänke und Metalltische. Sonst nichts. Davor werden Pakora und Samosa gebrutzelt oder zuckersüsse Schleckereien angeboten. Überhaupt das Essen. Wir schlemmen morgens, mittags und abends. Gefüllte Paratha. Dal auf zahllose Arten, schwarz und gelb. Südindische Thali. Tandoori-Chicken. Raita. Kichererbsen-Curry. Paneer Tikka. Masala Dosa. Und dazu stets das luftige Naan-Brot. Dass uns Eltern die indische Küche zusagt, wussten wir. Aber für Tim hatten wir einige Bedenken und machten uns schon auf ein ständiges Gequengel und die mühsame Suche nach Western Food gefasst. Weit gefehlt. Tim liebt die exotischen Curries und das Brot und die frittierten Snacks und isst - welche Überraschung - sogar herzhaft Gemüse. Und er ruft stets nach der schärfsten Variante: “Spicy, please“. Famos. Und bisher sind wir alle kerngesund, obschon wir an jedem Strassenstand essen und trinken.


Tim macht sich einige Gedanken über die Unterschiede zwischen Indien und der Schweiz. Er vergleicht die Kosten des Lebens, beginnt zu merken, dass hier fast alles fundamental anders ist als in der Schweiz. Wir schauen zu, wie ein Mann am Abend seine Frau zudeckt, die sich am Strassenrand zum schlafen hingelegt hatt. Mit einer verdreckten Plastikplane. Vielleicht habe Papas teures atmungsaktives Trecking-Hemd mehr gekostet als alle Gegenstände, welche diese beiden Menschen besitzen, rechnet Tim vor. Wohl wahr.


Wir merken, dass wir uns an Orten wie Orccha bedeutend wohler fühlen als in den lärmigen und chaotischen Städten, so aufregend und spannend diese auch sind. Und so beschliessen wir, einige Städte im Süden Madhya Pradesh nur kürzer zu besuchen oder wie Bombay gleich fallen zu lassen und einen Flug von Indore nach Goa zu buchen. Abflug in zehn Tagen. Einige Telefone und Mails. Wir haben Glück, alles klappt. Obschon Goa gegen Weihnachten randvoll wird, finden wir noch knapp ein hübsches Family Cottage am Strand von Patnem.

P.S: Tim liess sich in Orccha die Haare schneiden:


Er wünschte sich die zweite Frisur von links in der oberen Reihe:


Es hat nicht ganz geklappt:

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