Samstag, 19. Dezember 2009

Die Legende vom feigen Baz-Bahadur


“Guten Morgen”, sagt Doktor Patel. Auf deutsch. In einem A2-Abteil von Bhopal nach Ujjain. Dr. Patel, so wird er uns bald erzählen, hat zwei Jahre auf der indischen Botschaft in Bonn gearbeitet. Bis es ihn zurückzog nach Indien, um “hier meinem Land zu dienen”. Wie genau, lässt er offen. Dr. Patel ist sehr freundlich und erklärt uns, wie alles hier im Abteil funktioniert. Wir fahren erstmals in einem Sleeper, aber am Tag. Um sieben Uhr müssen die Betten heruntergeklappt werden. Dann wird gesessen. Und dann kommt jemand vorbei, der wischt und feucht aufnimmt, Tee und Frühstück bringt. Die zwei Insassen der oberen Kojen schälen sich etwas widerwillig aus den Laken. Aber sie tauen schnell auf. Bald tauschen wir Kekse aus. Und Tim erklärt allen die Regeln des “Schiffe versenken”. Dafür erhalten wir eine Zeitung. Und Dr. Patel stellt Tim einen USB-Stick-betriebenen Lautsprecher hin. Er spielt gregorianische Choräle, von Schlagzeug und Synthesizer untermalt. Draussen zieht eine bukolische indische Landschaft vorbei. Schirmakazien, dunkelbraune, trockene Erde. Ziegen und Ochsenkarren. Und dazu gregorianische Choräle.

Das Schöne am Hinduismus sei, meint Tim, dass es überall Tempel habe. Und diese sähen immer ganz unterschiedlich aus. Das ist wahr. In Ujjain steht nicht ein besonders prächtiger, sondern ein besonders heiliger: der Gopal Mandir, wo sich eines der in ganz Indien nur in einem Dutzend vorkommenden phallischen Jhoti-Lingams des Shiva-Kults befindet. Es wimmelt von Sadhus, die Sicherheitsvorkehrungen sind gross, überall Polizei. Wir stellen uns in die lange Reihe der Pilger, die ihre Blumengirlanden und Reisschalen als Opfergabe bereit halten. Doch es geht nur langsam vorwärts, und es ist schon spät. Also wieder hinaus aus der Schlange, ohne das Wunder-Lingam erblickt zu haben. Dafür in der Abenddämmerung zu den Ghats, wo gebadet und gewaschen wird. Auch hier gibt es Pedalos. Auf dem heiligen Fluss Shipra, wo alle zwölf Jahre die Khumb Mela stattfindet, das grösste Pilgerfest Indiens, das Millionen anzieht. Tim und Kathrin wagen eine Fahrt, ich verweile unter den paar Dutzend Pilgern, die in Minibussen heranpreschen, sich das heilige Wasser ansprenkeln, ein paar Blumen in den Fluss werfen und wieder verschwinden. Puja im Eilzugtempo.


Mehr los ist auf dem nahen Rummelplatz, denn weltliche Genüsse werden auch in Indien nicht verachtet. Wir stolpern in der einbrechenden Nacht an Schiessbuden, Putschautos und klapprigen Riesenrädern vorbei, werden als weit und breit einzige Weissköpfe selber zur Attraktion staunender Menschen, die sich in Trauben um uns drängen. Eher unangenehm. Doch im Trubel der Massen finden wir kaum den Weg zurück zum Fluss. Durchatmen. Es ist zwar nicht bedrohlich, aber ausgestellt zu sein in einer ausgelassenen Menge ist eine Erfahrung, die Nerven kostet. Zum Glück ist eine Rikscha nicht weit, die uns wieder in “sichere” Gefilde bringt.


Nerven kostet auch die Verhandlung mit den Taxi-Fahrern am Bahnhof von Indore, einer hässlichen Industriestadt südlich von Indore. 2500 Rupies sollen es zuerst sein für die Fahrt nach Mandu, knappe hundert Kilometer entfernt. Die Taxifahrer scheinen spontan ein Kartell gebildet und sich abgesprochen zu haben, denn keiner will billiger fahren. Doch zum Glück spielt letztlich auch hier der Markt. Denn nun schalten sich die Autorikscha-Fahrer ein und bieten die Reise für 1200 an. Was unter den Taxi-Gaunern zu heftigen Protesten und üblen Verlautbarungen über die Gefährlichkeit des Reisen in der Rikscha führt. Wir geben uns unbeeindruckt. Drei Stunden in der Rikscha wollen wir zwar vermeiden, aber die Konkurrenz lässt den Preis plötzlich purzeln. Zuletzt steht die Rikscha-Fahrt bei 800, die Taxi-Mafia bietet 1200. Akzeptiert. Dann folgt das übliche Prozedere. Fahrt zur Taxizentrale. Reifenwechsel. Tanken. Zuerst Gas. Dann Benzin. Lange Debatten um einen Vorschuss. Kontrolle des Reifendrucks. Nochmals Gas nachtanken, da der Tankdruck zu niedrig. Dann sind wir unterwegs - und zwei  Stunden später in Mandu. Ohne jeglichen Zwischenfall.


Das Städtchen liegt auf einem Felsplateau hoch über dem Tal des Narmada. Viel los ist hier oben nicht. Da muss man 500 Jahre zurückblättern, als Mandu Hauptstadt eines von afghanischen Gouverneuren gegründeten Königreiches war, das weite Teile Zentralindiens beherrschte. Da sollen eine Millionen Menschen hier gelebt haben. Etwas übertrieben vielleicht. Aber weitläufig ist die Ruinenstadt schon, die sich zwischen Baobab-Bäumen und einzelnen, weit verstreuten Bauernhöfen hinzieht. Die schönste afghanische Architektur, welche die Wirren der indischen Geschichte, all diese Kämpfe, Kriege und gestürzten Reiche auf dem Subkontinent hinterlassen haben. Und voller süffiger Geschichten. Jener von Sultan Ghiyas ud-Din etwa, der in einem eigens gebauten Lustschloss in Dutzenden von Wasserbecken mit 15‘000 Haremsdamen geplanscht haben soll. Mit 80 fiel er einem Giftanschlag seines eigenen Sohnes zum Opfer. Verständlich, der Sohn war wohl auch nicht mehr der jüngste und dürfte verzweifelt darauf gewartet haben, endlich den Bademeister-Job zu ergattern.


Etwas romantischer die Legende des Herrschers Baz-Bahadur, der sich in die überirdisch schöne Sängerin Rupmati verliebte. Um sie dazu zu bewegen, ihre Heimat in der Narmada-Ebene zu verlassen und zu ihm zu ziehen, soll er ihr den grazilen Pavillion am Rande einer 166 Meter hohen Felswand hoch über dem flachen Flussland gebaut haben. Sie liess sich locken. Doch Mogul-Herrscher Akbar hörte von Rupmatis Schönheit und liess seine Truppen gen Mandu ziehen. Und was tut Baz-Baradur? Der feige Kerl schlägt sich in die Büsche. Und Rupmati, heldinnenhaft, entzieht sich dem Zugriff des Feindes mit Gift. Se non e vero, e ben trovato, sagen die Italiener. Jedenfalls steht der Pavillion immer noch. Und die Sonnenuntergänge hoch über dem Narmada sind an Romantik kaum zu übertreffen.


Mandu ist magisch. Ein kleines Dorf am Rande des Plateaus. Eine Busstation. Eine staubige Strasse voller Pilger, die auf dem Weg zwischen Ujjain und Maheshwar hier vorbei ziehen und auf dem Markt um die Baobab-Früchte feilschen. Ein paar Ochsenkarren. Das ist alles. Keine Touristen. Wir treffen in drei Tagen jedenfalls nur eine Handvoll Franzosen. Eine vergessene Welt, zu weit weg von Bahn- und Buslinien. Wir mieten Velos und lassen uns über das Plateau treiben, in sanftem auf und ab. Die Landschaft erinnert an Afrika. Die Baobabs. Die schroffen Canyons, nur mit Akazien bestanden. Die verstreuten Gehöfte. Die Ziegenherden, die über ockerfarbenen Boden ziehen. Und dazwischen die Ruinen aus den Zeiten, als hier lüsterne Herrscher ihr Unwesen trieben. Zwiebelkuppeln und Bogengänge, die das milchiger Morgenlicht Licht in Streifen schneiden.

Es ist seltsam. Die Indischen Monumente haben jeglichen Bezug zur heutigen Welt verloren. Sie stehen isoliert auf trockenen Feldern, zerfallen, wie fast alles in Indien. Losgelöst von ihrem Umfeld, als Mahnmale an eine Zeit, die nicht mehr zu erfassen ist. Zur gleichen Zeit entstanden etwa in Italien die Renaissance-Paläste und die Städte mit ihren Bürgerhäusern, die auch heute noch vollständig erhalten sind. Die bewohnt und genutzt werden. Verändert und umgebaut zwar, lassen sie Rückschlüsse zu auf das Leben von damals, den Alltag der Menschen vor 500 Jahren. Nicht so in Indien. Die Häuser, Gassen und Strassen der einst mächtigen Städte sind verschwunden. Geschleift und geplündert von den Armeen fremder Herrscher, die ihre eigenen Reiche errichteten, bevor auch diese wieder zerfielen. Ohne Spuren zu hinterlassen. Oder höchstens in Form einiger weniger Prachtbauten. Anders als in Europa gibt es, was die Bausubstanz angeht, kein kulturelles Kontinuum, das frühere Zeiten lebendig und vorstellbar macht. Gleich geblieben ist höchstens der Glaube, die Religion, die immer noch so lebendig erscheint wie vor Jahrhunderten. Im Gegensatz zu Europa, wo sie ihre Bedeutung für den Alltag der Menschen längst verloren hat.


Wir haben uns im Malwa Resort einquartiert, dem staatlichen Gästehaus direkt an einem kleinen See. Die staatlichen Hotels haben oft die beste Lage, sind günstig und komfortabel. Kleine Idyllen. Und die beste Umgebung für Tim, um sich in Ruhe den Hausaufgaben zu widmen. Bewacht von der Hündin, die uns entschlossen gegen Affen und die Rudel anderer Hunde verteidigt, seit wir sie großzügig zu füttern begonnen haben. Sie ist abgemagert und ausgezehrt von den Jungen, die sie kürzlich gross gezogen hat. Ein Ohr steht steil nach oben, das andere hängt schlaff hinunter. Wir nennen sie Splitty. Ihr Blick bringt Steine zum schmelzen.

Indische Hotels haben ihre Eigenheiten. So die riesigen Schaltflächen mit mindestens zehn Lichtschaltern. Acht davon haben nicht die geringste Wirkung, bis man die zwei gefunden hat, die Licht oder Kühlung bringen, braucht es viel Geduld. Glückssache dann, wenn der Strom fliesst. In Mandu tut er es oft nicht. Aber die Reparatur-Equipe ist meist nicht weit. Und sie geht mit derart innovativen Methoden an die Probleme heran, dass diese meist in Windeseile gelöst sind. Nur die Suva würde protestieren.

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