Zwei Uhr morgens: Prashant steht da, ganz vorne an der Abschrankung, mit einem Schild mit unserem Namen in der Hand. Ein kleiner gedrungener Mann mit schütterem Haar. Hätte er nicht diesen schmalen, wie mit dem Bleistift gezogenen, spitz zulaufenden Schnauz, man glaubte, Ueli Maurer vor sich zu haben. Das Männchen nimmt sehr resolut unser Gepäck an sich, stapft voraus und lädt es in den winzigen Wagen. Es ist kalt in Delhi, in der Times of India wird stehen, dass die Temperaturen in dieser Nacht erstmals unter 12 Grad gefallen sind. Offenbar will Prashant so schnell wie möglich ins warme Bett, denn er rast durch die Schlaglöcher, als wäre der Teufel hinter im her. Oder Durga, die Rachegöttin. Die Strassen sind voller Laster, trotz der späten Stunde, die sich unberechenbar hin und her bewegen. Und wir brettern zwischen ihnen hindurch, als wäre die Bremse nie erfunden worden. Links. Rechts. Knapp vorbei. Beschleunigen. Wie in einem Computerspiel. Ich klammere mich vorne fest. Kathrin wird immer bleicher, Tim schliesst die Augen. Einfach nicht hinschauen, und irgendwann sind wir da. Das Abholen vom Airport ist inbegriffen, wenn man im “Incredible Guesthouse” wohnt. Aber der schnauzige Maurer will trotzdem Geld sehen, “for my good service”. Ich schiebe ihm müde 100 Rupies in die Hand, dankbar, dass wir heil angekommen sind. “Oh Sir, only small money, one more”. Welcome to India.
Die Metro bietet eine probate Alternative zum Chaos auf den Strassen. Voll zwar auch sie, aber schnell und mit Fixpreisen. Wir stürzen uns ins Getümmel des Chandhi Chowks, des Marktes beim Bahnhof Old Delhi, lassen die ersten Eindrücke des indischen Lebens auf uns einwirken. Die schmuddeligen Pakora-Küchen am Strassenrand. Der Ohren betäubende Lärm des Verkehrs. Die rasenden gelb-schwarzen Rikschas. Der Duft nach frischem Brot. Der scharfe Gestank von Urin. Die tausend Farben der Saris. Die Ratten, die durch den Strassengraben huschen. Das Zischen des Öls in den schwarzen Bratpfannen. Die Menschenmasse, die jedes Individuum zur Nichtigkeit macht. Die winzig kleinen Läden, in denen aufgeblasen blickende Männer auf Stoffballen sitzen. Wir lassen uns nieder, bestellen Samosa, nehmen den ersten Pappbecher mit Chai in die Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger am oberen und unteren Rand zu halten, so dass man sich nicht verbrennt, und lassen die süss-bitter-scharfe Köstlichkeit über die Zunge rinnen. Es werden noch Dutzende dieser Becher folgen in den Wochen, die vor uns liegen.
Im Red Fort ist World Heritage Week. Gratis-Eintritt. Doch die Müdigkeit holt uns ein, der lange Nachtflug schmerzt in den Knochen. Wir ziehen weiter zur Jama Masjid, der grössten Moschee Indiens, setzen uns hin und geben uns den Farben hin: Roter Sandstein. Stahlblauer Himmel. Rot und gelb leuchtende Saris. Was für ein Kontrast zu China mit seinem Grau und Braun und Schwarz. Am Bahnhof New Delhi wird eine neue Metro-Linie gebaut, bis hinaus zum Flughafen. Denn 2010 finden in Delhi die Commonwealth Games statt. Alle zweifeln, dass der Bau termingerecht vollendet sein wird. Wir auch, denn das Chaos der Baustelle ist grandios. Trotzdem schaffen wir es irgendwie, am Foreign Tourist Office unser Zugsbillet nach Agra zu reservieren. Doch zuerst hatten wir einige Schlepper abzuschütteln, die einem hartnäckig weismachen wollten, das Büro sei umgezogen. In ihr eigenes Travel Office natürlich. Gleich auf der anderen Strassenseite, just come with me. Dann ist unsere Batterie für heute leer.
Humayans Tomb gilt als Vorläufer des Taj Mahal. Ein Kuppelbau aus weissem Marmor und rotem Sandstein, in einem weitläufigen ruhigen Park. Und auf dem Weg dorthin beginnen wir auch die Finessen des Rikscha-Fahrens zu verstehen. Der Preis muss nicht nur gut ausgehandelt werden, bevor man abfährt. In Delhi lohnt sich auch die klare Feststellung, dass kein Geld gezahlt wird, falls ein Zwischenstopp bei einem Laden eingeschaltet wird. Als unser Fahrer nach mehreren Versuchen merkt, dass uns damit ernst ist, gibt der Motor seiner Rikscha ganz plötzlich und ganz unerwartet den Geist auf. Wir steigen aus und suchen uns einen kooperativeren Fahrer, der uns in die weitläufige Parkanlage bringt. Eine Idylle im Herzen des Molochs. Grüner Rasen, wärmende Sonne. Imponierende Mogul-Architektur. Tim jagt die Streifenhörnchen, die zu Dutzenden über die weit ausladenden Äste der den Banyan-Bäume wuseln, leichte Beute für Raubvögel, die ihre Kreise in den Himmel schreiben. Grüne Papageien flattern aufgeregt durch die Ruinen. Vor einer halb verfallenen Moschee rollt ein Bub die Gebetsteppiche zusammen und trägt sie fort. Wir sind zufrieden.
Der Bahnsteig lässt kaum Raum für sechs weitere Füsse. Überall stehen Menschen und Gepäck. Kisten und Koffer. In Tuch verpackte Ballen. Immerhin: Der Zug nach Agra fährt auf die Minute pünktlich. Wir fahren S2-Klasse, einfache Bänke, non-AC. Aber mitten in den Leuten. Der Zug ist - wie fast immer in Indien - bis auf den letzten Platz besetzt. Acht Frauen aus Rajasthan teilen sich sechs Plätze, Kinder schreien, Telefone klingeln mit lautem Hindi-Pop. Das schöne an Zugreisen: Es gibt keine Essens-Stops wie bei den Bussen, denn Essen und Getränke kommen zu einem: Chai-Verkäufer bahnen sich ihren Weg durch die Gänge. Dann kommen Samosa. Bananen. Gefüllte Parathas. Ein Spielzeugverkäufer versucht sein Glück bei Tim, der nur zu willig wäre, würden die strengen Eltern nicht eingreifen. Und gerade als man glaubte, man sei unten auf der Leiter angekommen, kommt jemand daher, der noch weiter unten steht: ein verdreckter Junge, der Schuhe putzen will. Der blinde Mann schliesslich, der von Abteil zu Abteil schlurft und auf einer kleinen Flöte spielt, in der Hand eine Blechtasse, in die ab und zu eine Münze fällt. Dann spielt er etwas lauter, aber gleich falsch wie zuvor. Man schämt sich über sein eigenes Übermass an vielem, was andere entbehren, über den Zufall, in dieser und nicht in jener Haut geboren zu sein. Spürt Wut über die Ungerechtigkeit. Mitleid. Ohnmacht auch, weil es sich nicht ändern lässt. Dann schweift der Blick hinaus auf das gemächlich vorbei ziehende Land, die grünen Felder, auf denen am frühen Morgen ein ganz klein wenig Nebel liegt. Man schliesst die Augen, lauscht dem Rhythmus der Scheinen, blickt wieder zurück in dieses Abteil voller Leben und Lachen und Leiden. Man versöhnt sich mit der Welt. Und spürt wieder dieses wunderbare Gefühl. Die stille Freude, hier und jetzt zu sein, nur an diesem einen Ort sein zu wollen. Nirgends sonst und in keiner anderen Zeit. Will man es Glück nennen?
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