Freitag, 20. November 2009

Die Stadt der gnadenlosen Effizienz


Der Abschied von Nadine und Michael, von Roli und Karin und den Jungs fällt uns nicht leicht. Wir haben die Tage in Yangshuo sehr genossen und würden gerne noch bleiben. Doch wir müssen weiter, denn Kathrins Clan wartet in Hongkong auf uns. Wir haben den Sleeper Bus gebucht,  von Yanghsuo direkt an die Grenze nach Shenzhen und weiter bis Kowloon. Der Bus ist fast voll, als wir einsteigen, und bald sausen wir liegend durch die Nacht. Drei Schlafstellen pro Reihe, dazwischen je ein Gang, doppelstöckig, wie in den japanischen Zellenhotels. An gross gewachsene Menschen hat man indessen nicht gedacht, ich die Beine nur mit einigen Verrenkungen in die kleine Lücke unter dem Kopfteil des Vordermannes. Toiletten gibt es keine im Bus, und so empfiehlt es sich, nicht viel zu trinken. Irgendwie erhaschen wir alle ein paar Stunden Schlaf, bis Shenzhen dauert es indessen einiges länger als die versprochenen 10 Stunden. In der Dämmerung zieht eine irgendwie unwirkliche Stadtlandschaft an uns vorbei. Vor 30 Jahren ein Fischerdorf an der Perlfluss-Mündung, heute Zehn-Millionen-Stadt. Chinas erste Special Economic Zone, das Laboratorium des Kapitalismus chinesischer Prägung. Hier kam es erstmals nicht mehr auf die Farbe der Katze an, sondern nur noch um ihre Fähigkeiten, Mäuse zu fangen. So drückte sich der damalige Parteichef Deng Xiaoping aus, der für den Boom verantwortlich ist. Für all die Shopping Plazas, Banken und hypermodernen Glaspaläste, die moderne U-Bahn, die propereren Parks. Sogar den Eiffelturm haben sie nachgebaut in einem Vergnügungspark. Es grenzt an ein Wunder, dass er nicht höher ist als das Original.


Der Fahrer stellt uns an der Grenze ab, drückt uns ein Ticket für den Hongkong-Bus in die Hand. Stempeln. Fieber messen. Und wir sind drüben. Die chinesische Effizienz erfährt in Hongkong nochmals eine Steigerung. Alles klappt wie am Schnürchen. Nirgends liegt ein Papierschnitzel am Boden. Alles ist bestens signalisiert und angeschrieben. Auf chinesisch und englisch. Hallelujah. Wir checken im YMCA ein, direkt neben dem famosen Peninsula, nur zu einem Bruchteil des Preises. Und von unserem Zimmer sieht man direkt auf die Skyline von Hongkong Island. Was für ein Ort für Tim, um die Aufgaben zu machen. Hintendran werfen Neonlichter und Laser eine Show an den Himmel, als wäre jeden Abend Weihnachten. Wir holen Kathrins Mutter und Schwester am Flughafen ab, lassen es uns gut gehen bei einem indischen Diner in den Chunking Mansions, einem abgewrackten Gebäude mit zwielichtigen Hostels und Kneipen, die man nur auf düsteren Hintertreppen erreicht. Umso köstlicher ist das Essen.


Es ist Sonntag, der einzige Tag, an dem die zig-Tausend indonesischen und philippinischen Hausangesellten Hongkongs frei haben. Im heute ruhigen Finanzdistrikt von Hong Kong Island sitzen sie zusammen. Am Boden. Auf Bänken. In Unterführungen. Überall. Sie schwatzen, essen, lackieren sich die Fingernägel, tauschen Neuigkeiten aus. Das einzige Vergnügen in einem harten Leben, das aber immer noch besser zu sein scheint als jenes zuhause. Oder zumindest für die Familien, die in den Genuss des Geldes kommen, das über Western Union und Co. Nach Manila und Jakarta fliesst. Um die südostasiatischen “Amahs” hat sich eine umfangreiche Industrie gebildet. Telefonkarten. Geldüberweisung. Speditionsdienste. Billigkleider. Was nachgefragt wird, wird auch angeboten, wie üblich im Überfluss und mit heftiger Konkurrenz. Und gleich daneben verkauft Armani Sonnebrillen, die so viel kosten wie zwei Monatslöhne einer Haushalthilfe.


No Problem in Hongkong, der Stadt des unablässigen Geschäfte Machens. An keinem anderen Ort der Welt kommen Konsum und Geschäft so schamlos, so brutal aufdringlich, so allumfassend daher. Jeder kleinste Fleck ein Laden. Sich vorzustellen, dass etwas existiert, was es hier nicht zu kaufen gibt, ist absurd. Kein Segment wird ausgelassen, besonders gut vertreten ist die Luxusware. Gucci und Prada und Tiffany und Armani kommen gleich im Dutzend vor. Und selbst Swarovski, diese wohl Unnötigste aller Ladenketten, die jene unsäglich kitschigen Kristall-Dummheiten verscherbelt, floriert in mehreren Kopien. Kommerzielle Hirnwäsche. Ein permanenter Terror-Anschlag auf Sinne und Vernunft der Menschen, als wollte man sie immer weiter treiben, ihnen keine Sekunde Zeit zum nachdenken geben, damit sie nie wissen können, was sie tun. Besonders aggressiv sind die indischen Strassenhändler: “New suit, best tailor, need new shirt, Sir? Copy watch, copy bag, cheap price” - und eigentlich habe ich doch schon längst alles und in mindestens doppelter Menge. Wann ist es soweit, dass einem ein “copy life” angeboten wird? Ab Stange oder massgeschneidert, cheap price.


Wir sind verwirrt und zuerst wie betäubt. Und jeder reagiert auf seine Art. Chrige verfällt zuweilen dem Shopping-Fieber, Annemarie will nur raus aus den Massen, Tim und Kathrin stehen irgendwo dazwischen, ich versuche in die Natur zu gelangen, so oft es  geht. Zu fünft unterwegs zu sein, ist nicht ganz einfach. Und Reibereien bleiben nicht aus beim Versuch, alle Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen. Und dies in einer Stadt, die niemanden kalt lässt. Hongkong nervt und fasziniert. Es vibriert und lärmt, strömt eine Energie aus wie New York, geprägt aber vom Kommerz, weniger von Kultur. Die Doppelstöckerbusse - jeder eine rasende Werbefläche -  brummen wie wilde Hornissen durch die Stadt. Pausenlos und immer zu schnell. Einer kippt um, wie wir in der Zeitung lesen. Ein Toter, mehrer Schwerverletzte. Mit zu hoher Geschwindigkeit in eine Kurve gegangen. Das erstaunt uns nicht, als wir uns von einem dieser Maschinen über Hong Kong Island tragen lassen, eine Kurve um die andere, nach Stanley und weiter zum Shek O Beach. Es ist heiss und feucht. Etwas neblig zwar, aber trotzdem toll für ein Bad im lauen Meer. Ich schwimme mit Tim auf das draussen vertäute Floss. Das Schild lesen wir erst später. “Wegen Unterhaltsarbeiten wurde das Hai-Netz vorübergehend entfernt”. Und: “Sorry for any inconvenience caused”. Ist doch nett, wenn sich wenigstens jemand entschuldigt, wenn man das Bein abgebissen gekriegt hat. Als Rache quasi machen wir uns in einem der zahllosen Seafood-Restaurants über Krabben und Scampi her. Göttlich.


Auch das ist Hongkong: Zahllose Fluchtpunkte aus dem Grossstadt-Dschungel. Die New Territories, zwar zunehmend von den immensen Vorort-Siedlungen überzogen, welche die Slums ersetzt haben, aber immer noch weitgehend bewaldet. Subtropischer Dschungel. Wanderwege über sanfte Hügel, durch kühles Grasland. Dann die Outlying Islands, die vielen kleinen Inseln vor der Küste, die richtig romantisch sind. Cheung Chau etwa. Autofrei, Strassencafés, Wander- und Velowege. Wir mieten Velos und gondeln über die Insel, baden am Afternoon Beach. Oder Sai Kung in den New Teritories, wo uns ein Sampan zum Picknick auf eine kleine Insel bringt. Am Pier verkaufen Fischer den Fang direkt an die Besucher. Eine Unmenge an Getier. Krabben. Hummer, Langusten, Schnecken. Tintenfische. Kalmare. Jede erdenkliche Fischart. Grouper. Papageienfische. Die Restaurant bieten die gleiche Auswahl in ihren riesigen Tanks. Doch die Preise sind stolz: Gegen 100 Franken für einen anständigen Hummer. Wir verzichten und landen wieder beim billigen Inder.


Gibt es eine Stadt, die besser organisiert ist und effizienter funktioniert als Hongkong? Ich bezweifle es. Der öffentliche Verkehr läuft schlicht perfekt. Die Metro ist schnell, hell, modern und fährt in allen Richtungen alle paar Minuten. Selten wartet man irgendwo auf eine Verbindung. Dann die Busse. Eines der dichtesten Netze der Welt. Die doppelstöckigen Trams. Die Fähren. Die Star Ferry. Perfekt. Und überall ist alles prächtig angeschrieben. Hinweisschilder, Pläne und Karten. Ankündigungen über den Lautsprecher über alle möglichen Gefahren und Risiken, die doch noch drohen könnten - “Beware of Pickpockets” - und mit guten Wünschen: “Enjoy your Day in Hongkong”. Das übertrifft an obrigkeitlicher Fürsorglichkeit selbst die USA, die damit ja auch nicht geizen. Und sauber ist diese Stadt. Brigaden von Putzequipen sammeln alles sofort ein, die Strände sind stets piekfein gesäubert, es hat Toiletten mit Papier, Umkleidekabinen und Duschen und Fahrradabstellplätze. Der Clou: Selbst die kleinen Sandkästen, in denen die Hunde ihr Geschäft zu machen freundlich aufgefordert werden, sind morgens jeweils frisch gerecht. Unglaublich. Will man sich da noch aufregen, dass am Strand eigentlich alles verboten ist, was Spass macht: Ball spielen. Musik hören. Frisbee spielen. Fischen. Drachen steigen lassen. Alles mit entsprechendem Piktogramm. Vielleicht aber, denkt man, ist alles einen Tick zu steril. Etwas langweilig gar. Und ist die Frage ketzerisch, ob die Maschine nur deshalb derart perfekt geölt wird, dass Geschäft und Kommerz nicht gestört werden?


Hier spielt der Markt. In jeder Beziehung. Ob virtuell, mit Elektronik, Schmuck, Kleidern, Tieren oder Lebensmitteln. Die Auswahl an Kuriositäten ist exquisit. Singvögel in Drahtkäfigen oder gerupft im Jutesack. Krabbengetier aller Art. Goldfische, die durch Züchtungen und Kreuzungen dazu gebracht wurden, Fettklopse anzusetzen oder über den Augen rote Pompons zu entwickeln, als wären sie Cheerleader für ein Football-Team. Heilmittel und Kräuter, die sich der westlichen Kenntnis und Beschreibung entziehen. Gedörrte und getrocknete Echsen, Seegurken, Vogelnester und Haiflossen. Es gibt nichts das vier Beine hat, das die Chinesen nicht verspeisen - außer einem Tisch. Wir defilieren über die Märkte, haben bei fast allem keine Ahnung, was das ist und wie es schmeckt, wollen es auch nicht wirklich wissen. Mit der chinesischen Küche kommen wir immer noch nicht klar. Alles wabert und blubbert, Geschmack und Konsistenz behagen uns nicht, zum Glück gibt es Thais und Vietnamesen und Inder.


Als wir die obligate Fahrt auf den Peak machen, beginnt es zu regnen. Die Sicht auf das Häusermeer ist trotzdem erstklassig. Dafür lassen wir einen strahlend schönen Tag im Ocean Park verstreichen, einem von Menschen überschwemmten Vergnügungspark. Uns gefällt die Quallen-Ausstellung, Tim die Delfin-Show. Klar: Auch seine Bedürfnisse wollen beachtet sein, und am Abend schreibt er den längsten Tagebuch-Eintrag der ganzen Reise. Dafür kehrt der Nebel zurück, als ich mit Tim auf Lantau wandern gehe. Männertag, die Mädels zieht es in die Läden. Wir fahren mit der Gondelbahn nach Ngo Ping. Unten starten die Jumbos auf dem Flughafen, oben thront der grösste sitzende Buddha der Welt. Das ganze ist, wen wundert’s, nicht der Spiritualität geweiht, sondern dem Kommerz. Im künstlichen Village gibt es die Multivisions-Show “Walking with Buddha“, unter dem Bronze-Riesen breitet sich - sehr passend - das  Gautama Shopping Plaza aus. Wie war das doch gleich: Wahre Freiheit erreicht, wer allen materiellen Wünschen und Begierden entsagt. Hongkong scheint ein einziges grosses Gefängnis zu sein.


Der Treck über die Insel entschädigt für den Buddha-Nepp. Wir wandern durch karges Grasland, immer auf dem Grat der Hügel, von denen man auf beiden Seiten das südchinesische Meer sähe. Nicht heute, denn Nebel wabert über die Kuppen. Macht nichts, die Stimmung ist toll, wir fühlen uns wie im schottischen Hochland. Und wir begegnen auf dem ganzen Treck bloss zwei anderen verirrten Seelen. “Mindestens fünf bis sechs Stunden” haben man für die Strecke nach Tai O zu rechnen, hatte man uns im “Wilderness Centre“ gewarnt, und mit einem so kleinen Jungen sei das doch ein bisschen gefährlich, denn es gehe ein paar Mal steil bergauf. Wir schaffen es in weniger als drei Stunden. “Chinesentempo”, grinst Tim, als wir durch dichten Wald und Eukalyptus-Alleen dem Ziel zu stapfen.

Der Winter bricht herein. Seit exakt 54 Jahren habe es im Norden Chinas nicht mehr soviel geschneit im November, schreiben die Zeitungen. Dutzende Menschen starben, als ihre Häuser unter der Schneelast kollabierten. Und schon machen Kritiker das “Wolken impfen” für den Schnee verantwortlich, die Versuche der chinesischen Behörden, jeweils zu wichtigen Ereignissen die Niederschläge zu vertreiben. Oder ist es einfach die bereits alltägliche Feststellung, dass das Klima einfach verrückt spielt, wohin man auch kommt. Monsunregen zu Unzeiten in Nepal, schwere Dürre im Süden Chinas, Schneestürme im November. Wie auch immer: Der Kälteeinbruch erreicht auch Hongkong, just als wir uns für die letzen zwei Tage zur Erholung auf Lamma Island zurückziehen. 12 Grad. Eisiger Wind.


Schlimm ist’s nicht. Die Insel ist verkehrsfrei und traumhaft ruhig. Tim badet sogar nochmals im Meer, am Strand direkt vor unserem gemütlichen kleinen Hotel. Wir spazieren in Faserpelz und Windjacke über die Insel und freuen uns auf die Wärme und die Farben und Gerüche Indiens, die uns erwarten. Wir schreiben und lesen und schlafen. Lamma ist eine Fischerinsel, die vor einiger Zeit von europäischen Expats entdeckt wurde. Viele leben hier, pendeln mit der Fähre in 25 Minuten nach Central, keine schlechte Idee. Es gibt Läden, die Roquefort, Baguette und Rohschinken verkaufen, perfekt für ein Picknick. Und wir entdecken das Bookworm-Café. Tolle vegetarische Küche, gute Musik, Kaffee und Kuchen. Bücher zum schmökern. Das Motto des sympathischen Betriebs: “Live simple, so others can simply live“. Nett, aber in Hongkong eine ziemlich exotische Einstellung.

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