Dienstag, 17. November 2009

Versöhnung mit China


Das Outside Inn ist genau so, wie wir uns dies vorgestellt haben. Ein Hort der Ruhe inmitten einer idyllischen Landschaft, außerhalb von Yangshuo, im Norden der Provinz Guangxi. Das Guesthouse wurde von einem Holländer in einem alten Bauernhof auf- und umgebaut, es besteht aus zwei langgezogenen Häusern aus gelben Lehmbacksteinen, wie sie in der Region früher üblich waren und heute (noch) zu sehen sind, mit Ziegeln gedeckt. Dazu ein paar Familienhäuser, Küche und Empfang. Ein wunderbarer Pavilion, unter dem man draussen isst, ein paar Hängematten im Garten, ein Billardtisch. Die Zimmer sind gross und bequem, gemütlich, sauber und preiswert. Und ohne Fernseher - einfach perfekt.

Nadine und Michael, sie Schweizerin, er Engländer, leiten das Guesthouse seit 15 Monaten. Zuvor waren sie zwei Jahre mit ihren beiden Jungs Lenny und Desmond in Asien unterwegs und danach wieder ein Jahr in der Schweiz - bevor sie das Angebot erhielten, das Outside Inn zu übernehmen. Sie tun es mit viel Liebe und Geduld, Bescheidenheit und Aufmerksamkeit, mit grosser Begeisterung auch für Yangshuo, für China und die Chinesen. Und ihre positive Energie strahlt auf den ganzen Ort ab, gibt ihm Charme und eine Aura, in der man sich sofort wohl fühlt. Wir ruhen uns erst mal aus, lesen, schreiben Mails, geniessen das hervorragende (chinesische und westliche) Essen; Tim spielt mit Alex, dem jungen Dackel, und macht brav seine Aufgaben am Tischchen im Hof, versucht sich mit Desmond und Lenny anzufreunden, was vorerst schwierig ist, da die beiden zwar deutsch verstehen, es aber kaum sprechen.

Der Morgen giesst hundert Grautöne durch unser Fenster, einer trüber als der andere. Doch der Nebel löst sich bald in klare Bläue auf, und wir erleben zehn Tage herrliches Herbstwetter: etwas Nebel am Morgen, der sich bald auflöst, sonst strahlenden Sonnenschein von früh bis spät, 25 Grad. Und der Herbst beginnt die ersten Blätter mit einem Hauch von gelb zu überziehen  - was will man mehr? Wir mieten Velos, fahren dem Yulong-Fluss entlang, der sich wie der gewundene Rücken eines Drachens durch das breite Tal zieht. Die Landschaft scheint  nicht von dieser Welt. Kegel aus Karst stossen jäh aus dem Boden, wohin man blickt. Aufgereiht wie in einer Bowlingbahn. Sie erinnern an Kamelhöcker. An Nadelkissen. An Leuchttürme in einem Meer aus wogendem gelben Reis. Es ist Erntezeit, die Bauern stehen in den Feldern, konische Hüte auf dem Kopf, schneiden und dreschen und binden die Garben zu runden Ballen. Ja: So haben wir uns die chinesische Idylle vorgestellt in unseren Träumen. Und hier existiert sie tatsächlich noch. Balsam für die Seele. Natürlich sind wir nicht die einzigen, welche diese Landschaft geniessen wollen. Auf dem Fluss lassen sich chinesische Touristen auf Bambusflossen hinauf- und hinunterrudern. Dabei bespritzen sie sich johlend und kreischend mit Wasserpistolen, die es am Ufer zu kaufen gibt. Und in der Mitte des Flusses sind schwimmende Snack-Buden vertäut.


Yangshuo, der Li River und seine Karstfelsen gehören zu den wichtigsten Zentren des chinesischen Tourismus, an Popularität etwa auf gleicher Höhe wie die Grosse Mauer und Beijings Verbotene Stadt. Die archetypische chinesische Landschaft. Tausendfach fotografiert. Hundertfach gezeichnet in der klassischen chinesischen Malerei. Auf dem 20-Yuan-Geldschein verewigt. Einfach das, was man sich so vorstellt, wenn man an China denkt. Urtümlich. Aber inzwischen touristisch stark erschlossen. Yanghsuo ist in 20 Jahren von einem Fischerdorf zu einer Stadt mit 300’000 Einwohner geworden. Es hat Dutzende von Hotels und Restaurants und eine Fussgängerzone voller Souvenir-Läden, die so proper und herausgeputzt ist als stände sie in einem der “plus jolies villages de France”. Trotzdem ist das Städtchen angenehm, alles ist blitzsauber, denn eine ganze Armee von Strassenwischerinnen - mit Gesichtsmaske gegen Keime geschützt - räumt jeden Abfall blitzschnell weg. Der Stadtpark ist renoviert, der Spielplatz nett. An Tischchen spielen die Männer Mah-Jong und Karten. Yangshuo ist reich, das spürt man, der Tourismus hat seine Spuren hinterlassen. Sieht so das China der Zukunft aus: saubere neue Wohnblocks am Rand der Stadt, die wie Krakenarme immer weiter zwischen die Karstpfeiler vordringen?


Und auch in den Dörfern wird gebaut. In Chau Long, wo das Outside Inn steht, wird das Guesthouse wohl bald das einzige traditionelle Lehmziegelhaus sein, das noch übrig bleibt und Zeugnis ablegt von den alten Zeiten. Kann man es den Menschen verübeln? Die modernen Betonbauten, an der Vorderseite gekachelt, haben Strom und fliessend Wasser, sind an die Kanalisation angeschlossen und haben Broadband-Anschluss. Will in der Schweiz jemand ohne das leben? Oder gibt es doch noch eine Chance für die traditionelle Bausubstanz? Nadine erzählt, dass schon viele Journalisten bei ihnen waren und Reportagen gemacht haben über die sanfte Renovation alter Gebäude. Die gestaunt hätten, dass man die alten Mauern nicht abreissen müsse, um drinnen komfortabel zu leben. Und dass die renovierten Häuser so ja viel wohnlicher seien als die modernen Klötze. Doch der Gedanke des “schöner wohnen” ist neu in China, denn man muss sich das auch erst leisten können. Aber er verbreitet sich, das Umdenken wird sichtbar. Auch was den Umweltschutz betrifft. Nirgends haben wir so viele Elektro-Roller gesehen wie in Yangshuo. Der Grund: Wie in vielen anderen chinesischen Städten werden schlicht keine neuen Benzin-Töffs mehr zugelassen. Verfügung der Stadt-Regierung, die sich nicht um langwierige Prozesse demokratischen Interessenausgleichs kümmern muss. Sondern handelt. Wind- und Sonnenenergie erleben einen Boom, der im Westen kaum wahrgenommen wird.


Was man deutlich spürt: In China herrscht eine “just do it”-Stimmung. Die Menschen sind optimistisch, zufrieden. Schauen mit Mut in die Zukunft. Und sind von einer Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft, die dem China-Klischee des rauen und spuckenden Rüpels, das wir in unseren Köpfen hatten, diametral widerspricht. Selten zuvor haben wir auf unseren Reisen nettere Menschen angetroffen. Durchgehend. Selten zuvor sind wir fröhlicheren Menschen begegnet. Es wird gelacht und geplappert und gefeiert. Man spürt die Zufriedenheit und den Stolz der Menschen auf ihr Land, das auf der Welt wieder Gewicht bekommen hat und in den letzten Jahrzehnten Gewaltiges erreicht hat. Kritik an der Regierung, erzählt uns Nadine, höre man selten. Denn dies schaffe ja die Bedingungen dafür, dass jeder, der sich anstrenge, es zu etwas bringen kann. Und dabei fackelt man nicht lange: In Yangshuo wurden nach einem tödlichen Heissluft-Ballon-Unfall alle Ballone konfisziert, das Fliegen ist vorerst verboten, Dutzende verloren ihren Job und ihr Geschäft. Schon am nächsten Tag erzählten zwei Piloten, sie hätten einen neuen Business-Plan entwickelt: Autowaschanlagen, die Vorbereitungen seien bereits in vollem Gang. In der Schweiz würde man zuerst lange lamentieren und dann von der Regierung Entschädigung fordern.

Diese Erfahrungen - und lange Gespräche mit Nadine - beginnen uns mit China zu versöhnen. Und auch mit dem chinesischen Tourismus. Vielleicht ist es ja ganz gut, dass die einheimischen Touristen nur in grossen Gruppen reisen. Und sich oft für ganz andere Dinge interessieren als wir Westler. So sind sie fasziniert vom neuen Shangri-La-Village am Li River, einer künstlichen Welt, wo traditionelle Dörfer und Brücken nachgebaut wurden, wo es moderne Läden hat und Ethno-Tanz-Darbietungen zu geniessen sind. Das indessen interessiert die meisten West-Touristen herzlich wenig, die sich - wie wir - lieber auf dem Bauern-Markt in einem der umliegenden Dörfer umschauen. Auch wenn wann mit anhören muss, wie junge Hunde in engen Körben winseln, bevor sie heraus gerissen und verkauft werden. Was danach mit ihnen passiert, bleibt der Phantasie überlassen. Solche Szenen sind den chinesischen Touristen wiederum eher peinlich, die nicht verstehen, weshalb wir es spannend finden, auf einem Hinterwäldler-Markt herumzuschnüffeln und zuzusehen, wie Fische ausgenommen, Zähne gezogen, dubiose Potenzmittel verkauft und Furunkel mit Feuer ausgebrannt werden. Und so berühren sich die beiden Touristengruppen kaum. Wenn sie es trotzdem tun, bleibt es bei einem “Nihau” und einem Lächeln.

 
Auch im Outside Inn gibt es selten chinesische Gäste. Wenn sie kommen, sagt Nadine, benehmen sie sich nicht selten ziemlich daneben, behandeln die Angestellten von oben herab. Die Transformation vom Menschen zum Touristen. Die Westler bewahren dagegen (meist) ihren Anstand, wenn sie reisen. Oder Teile davon. Und es hat viele Langzeit-Reisende unter ihnen, die auch lange im Guesthouse bleiben. Wie Roli und Karin aus Baar mit ihren Zwillingen Simon und Eric. Sie sind ein Jahr unterwegs. Kirgistan, Usbekistan, Russland, von Norden durch China. Bali. Australien. Neuseeland, Südsee. Der ganze Turnus rundum. Wir verstehen uns auf Anhieb, unternehmen gemeinsame Ausflüge, gehen velofahren und klettern, plaudern, blödeln. Toll, mal Zeit zu haben, nichts zu tun, von Stunde zu Stunde zu entscheiden, auf was man gerade Lust hat - oder halt nicht. Und Tim fühlt sich pudelwohl, spielt Billard, neckt die Hunde, macht einen Kung Fu-Kurs mit den Jungs und freut scih über das feine Essen, die Pizzas und Spaghettis. Mit chinesischem Essen hat nach wie vor sein liebe Mühe. Wir auch. Ausser mit dem Lemon Chicken und der gebratenen Ente. Die sind köstlich hier.


Renate aus Steffisburg sitzt oft im Pavilion und büffelt chinesische Vokabeln. 4000 muss sie können für die Prüfung der Universität Shanghai. Aber das ist alles hochchinesisch, und mit den Leuten wirklich sprechen könne sie trotzdem noch nicht besonders gut, erzählt sie uns Da hilft die Lehrerin, die jeden Tag hinkommt und zwei Stunden Konversation in Umgangssprache macht. Renate lebt seit 3 Jahren in Shanghai. Schön, finden wir. Doch sie hat langsam genug von der Stadt, wo ihr Partner für eine Schweizer Maschinefabrik arbeitet. Genug von den vierstündigen Fahrten, bis man endlich im Grünen ist und frische Luft atmen kann. Nun geht es bald nach hause. Aber nicht direkt, sondern mit dem Velo. 15 Monate der Seidenstrasse entlang, mit Zelt, Schlafsäcken und dicken Packen auf dem Gepäckträger. Dann  sitzen zwei Finnen herum, ein englisches Paar auf Weltreise und der Shanghai-Foto-Korrespondent der “Volkskraant”. Ein bärbeissiger Mensch, dem der Verdruss ins Gesicht geschrieben steht. Er setzt sich ungefragt an jeden Tisch, schiebt Tassen beiseite, klappt den Laptop auf, schürzt die Lippen und versinkt ins Betrachten seiner Fotos. Ob er damit jemanden stört, kümmert ihn nicht.


Mr. Bean trifft ein. Er heisst zwar Bing und ist Chef der lokalen Behörde, welche Visa verlängert, Ausländern Arbeitsbewilligungen erteilt und entzieht und dafür sorgen muss, dass alle Reisenden in den Hotels ordnungsgemäss angemeldet sind. Ein wichtiger Mann also. Seine Brille ist riesig, die Gläser sind dick wie Flaschenböden. Und wenn er sich bewegt, fuchtelt er mit den viel zu langen Armen wild durch die Luft als wollte er Fliegen fangen. Dazu spricht er englische Brocken in einer Stakkato-Stimme und stösst gurgelnde lachende Laute aus. Mit Mr. Bean muss man auf gutem Fuss stehen. Und heute kommt er mit einer Delegation von 15 noch wichtigeren Männern (und zwei Frauen). Sie sind seine Vorgesetzten, die Kommission für Fragen der Ausländer-Sicherheit aus Nanning, der Hauptstadt der Provinz Guangxi. Sie wollen das Hotel inspizieren. Bing schient nervös, aber das ist vielleicht nur seine Art. Und Michael ist wie immer die Ruhe selbst, obschon er in abgeschabten Jeans erwischt wird, während die Besucher alle fein geputzt sind. Man führt sie durch das Gelände und durch ein paar Zimmer. Zeigt, dass das Gerät funktioniert, mit dem alle Pässe gescannt und direkt nach Nanning übermittelt werden. So kann die Behörde die Spuren jedes Besuchers lückenlos verfolgen und sicherstellen, dass ihnen nichts geschieht. So lautet ihr Auftrag. Natürlich ist im Outside Inn alles in bester Ordnung. Zwei deutsche Strassenmusiker, ebenfalls hier zu Gast, spielen zum Abschied auf Geige und Harmonika zwei Zigeunerweisen. Fotografieren, klatschen, lachen, Hände schütteln. Und man verabschiedet sich im Wissen, dass die wichtige Beziehung heute gut gepflegt wurde.


Roli ist SAC-Jugendleiter und erfahrener Kletterer. Er mietet Seile und Kletterfinken für alle. Und wir radeln zum Baby Frog, einem zünftigen Karstbrocken nicht weit hinten im Yulong-Tal. Roli steigt vor, die Kids balgen sich um die nächsten Plätze. Tim ist Feuer und Flamme fürs Klettern und steigt ohne Angst in die Routen ein. Er sieht die Griffe und Tritte gut und kraxelt problemlos einige 25 Meter Wände hoch. Chapeau. Die Kulisse ist traumhaft, das Klettern macht Spass, auch wenn abends Finger und Zehen schmerzen. Nadine nimmt uns auf eine Wanderung aufs Lost World Plateau mit. Direkt vom Guesthouse aus einen Pass hoch und zwischen Karstmonstern hindurch. Wir mieten Velos und fahren dem Fluss entlang zum Moon Hill, einem Felsen mit mondförmigem Loch, über 1200 Treppenstufen über der Ebene.


Der Li River ist zur Schiffs-Autobahn verkommen. Zwischen Guilin und Yangshuo  verkehren täglich Dutzende von Ausflugsbooten, oft liegen nur 100 Meter zwischen den Dampfern, auf dem sich die Touristenmassen den Felsen mit den Fabelnamen entlang schippern lassen: Neun-Pferde-Fresko. Schildkröte steigt auf einen Berg. Neun Drachen überqueren den Fluss. Undsoweiterundsofort, alles ist benannt und auf den Ausflugskärtchen verzeichnet. Wir brechen unser Versprechen gegenüber Mr. Feng, dem eulenhaften Führer, und gehen zu Fuss, das schönste Stück zwischen Yangdi und Xingping. Der Weg führt zuerst über Felder, dann immer dem Li entlang. Die Felsen ragen oft direkt aus dem Fluss in die Höhe. Zweihundert, dreihundert Meter. Vertikale Wände, vor denen selbst der kräftigste SAC-Mann kapitulieren müsste. Dazwischen Bambus-Haine. Und die milde November-Sonne taucht den Himmel in klares Licht. Schon beim Mittags-Picknick röhren die Ausflugsdampfer flussaufwärts wieder an uns vorbei. Dann wird es ruhig. Und schließlich geben wir den penetranten “Bamboo Bamboo”-Rufen nach, steigen auf eines der Bambus-Flosse und lassen uns die letzte Stunde auf dem Fluss trieben. Wir bereuen es nicht, denn vor uns liegt eine der spektakulärsten Flusstrecken der Welt. Mit turmhohen Felsen und kleinen Inseln, auf denen Wasserbüffel weiden. Bis hinunter zu dem Ort, der auf der 20-Yuan-Note zu sehen. Rummelplatz mit tausenden von Fotografen. Aber was soll’s? Schön ist es alleweil.



Unten am Yulong, nur zehn Minuten vom Outside Inn, liegt ein Ort, der die Seele jubeln lässt. An der Biegung des Flusses wächst der Bambus hoch. Am Ufer steht der zerfallene Torbogen eines Tempels. Der Reis ist reif und hat eine gelbe Decke über das breite, topfebene Tal gelegt, bis hin zu den schrullig geformten Felsen, die in allen Richtungen den Blick einfangen. Ich gehe immer wieder hin. Allein. Am schönsten ist es, wenn die Sonne die ersten Strahlen über die Kegel  schickt und zartes Licht durch den Nebel filtert, der noch auf dem Fluss liegt. Das  Wasser ist glatt und wirft ein perfektes Spiegelbild, bis ein Vogel  auffliegt und kleine Wellen über die glitzernde Fläche zittern. Dann gleitet ein Fischer auf seinem Floss vorbei. Unten am Damm hört man die Frauen plappern, während sie Wäsche waschen. Ein Mädchen radelt auf dem Damm zwischen den Feldern vorbei, gefolgt von einem bellenden jungen Hund. Ein alter Mann treibt eine Schar schnatternder Gänse in die Felder. Zwei Wasserbüffel ziehen dem anderen Ufer entlang. Man weiss, es ist nicht real. Doch man möchte einfach immer hier sitzen bleiben, schauen, staunen und glauben, so sei die Welt.

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